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Blog #10/18 - Extreme Auskosten

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Blog #10/18 - Extreme Auskosten

Blog #10/18 - Extreme Auskosten

von Karsten Munt

Der Wahn dehnt die Zeit, breitet sie zu einer gleichförmigen, nicht enden wollenden Qual aus. In Hagazussa ist die junge Albrun das Opfer dieser Qualen, die sich aus der Isolation von der christlichen Glaubensgemeinschaft speisen. Um den Schmerz des Verlustes und der Einsamkeit zu durchbrechen, verfällt Albrun psychischen und physischen Extremen, wird zu eben der Hexe, die die anderen in ihr zu sehen glauben.

woche der Kritik Tag 8, Copyright Jan Zappner
© Jan Zappner

Eben dieses Extrem schwebt auch über der Diskussion, die Thomas Arslan, Lukas Feigelfeld und Silvia Szymanski führen, kurz nachdem das letzte Grollen der Cello-Drone-Soundtracks verklungen ist. Schon in der ersten Annäherung erscheint die Fragestellung des Abends aus Perspektive der anwesenden Filmemacher befremdlich: Dass Filme notwendig Grenzen überschreiten müssten, ergibt für sie ebenso wenig eine Grundlage ihrer Arbeit wie die heilende Wirkung der Katharsis. Das Entstehen eines Films lasse sich für den Regisseur nicht aus Perspektive der Rezeption denken. Man sei schließlich kein Arzt, der eine Krankheit zu heilen habe. Womit das Konzept der geplanten Grenzüberschreitung schnell an eben jene Grenze stößt. Denn so wenig es konkret für die Filmemacher planbar ist, so wenig ist es auf einen Begriff wie das Kino abstrahierbar. Welche Grenze ist gemeint? Was genau überschreitet eine Grenze? Schriftstellerin Silvia Szymanski vereint die Extreme der Wahrnehmung des Films unter dem Konzept der Sinnlichkeit. Nicht im Sinne des eingeforderten, lustvollen Auskostens einer Grenzüberschreitung – das sie nur im Rahmen der Pornografie für möglich hält –, sondern im Sinne des empathischen Erlebens. Das Extrem, der „Schmerz eines Mädchens, der die Welt zerreißt“, speist sich eben nicht durch ein sadistischen Genuss des Publikums, sondern wird als ein empathischer Gestus angelegt.

Natürlich reihen sich Hagazussas Attraktionen durchaus in das Genrekino ein und bieten damit den Stoff für ein Tauziehen des Genrebegriffs. Für Feigelfeld bieten die Codes des Horrorfilms eine Grundlage, die es ständig zu erneuern gilt. Arslan sieht besonders in der Kontinuität des Genres seinen Reiz, der zu der Zeit, als Hollywood die Filme wie am Fließband produzierte, gerade in der Redundanz aufblühte. Eben dieser Raum ist in Europa natürlich nicht (mehr) gegeben. Ein europäisches Horrorkino als solches gibt es ebenso wenig wie ein deutsches. Hagazussa steht mit anderen kleinen Genreproduktionen, die aus dem Publikum eingeworfen werden (Der Nachtmahr, Der Samurai) nicht wirklich in einer Reihe. Vielmehr stehen sie als singuläre Werke, isoliert von der Förder- und Fernsehgemeinschaft, die als diffuses Machtgefüge schließlich die Diskussion völlig beherrscht. Der Wahn der Filmfinanzierung scheint nicht wegzudenken aus einer Diskussion, die die Begriffe „Deutsch“ und „Genre“ zusammenbringt. So stehen plötzlich RTL-Mehrteiler neben ZDF-Fernsehspielen im Raum, während sich die Diskussion von der Wahrnehmung in die Qualen der Verwertungskette verschiebt. Arte, RTL, MUBI und natürlich Netflix machen die Runde, vergiften jeden Ansatz einer weiteren Diskussion. Die Hexenjagd wird fortgesetzt, und der deutsche Genrefilm wird wieder genau das Phantom, das die Glaubensgemeinschaft nie zu Gesicht bekommt.

© Jan Zappner
© Jan Zappner