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Blog #7/19 - Den Wald aus Zeichen Zerlegen

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Blog #7/19 - Den Wald aus Zeichen Zerlegen

Blog #7/19 - Den Wald aus Zeichen Zerlegen

by Esther Buss

Vor Kurzem redete oder vielmehr schrieb sich der Autor Dietmar Dath toll in Rage über den Universalschlüssel „Utopie/Dystopie’“ in der Rezeption spekulativer Phantastik. Am Ende seines Textes hieß es: „Der Himmel der Kunst schließt ein, dass sie auch die Hölle gestalten darf, und alles, was zwischen der und dem sozialen Himmel liegt, oder ganz abseits der kürzesten Strecke, mit der man diese beiden verbinden könnte. Der Horizont der spekulativen Phantastik […] ist offen und sollte es sein.“ An diesen Vortrag und speziell an diesen einen Satz musste ich an dem Abend der Woche der Kritik immer wieder denken, die in ihrem Ankündigungstext übrigens auch nicht ohne das Begriffspaar auskommen wollte. Denn bei Virgil Verniers betörend schön unheimlichem Dazwischenfilm Sophia Antipolis lässt sich so ein „zweiseitiger Hebel“, wie Dath es nennt, einfach nicht anwenden, auch wenn die große Erzählung von Untergang und Wiederauferstehung darin natürlich mitschwingt. Und sehr bewusst mitschwingt. Man kann sagen: Der „offene Horizont“ ist Verniers Konzept.

Nun war der Abend aber gar nicht mit „Utopie/Dystopie“ überschrieben, sondern mit „Verpflanzen/Implant“ – ein Titel, auf dessen beabsichtigten Übersetzungsfehler ich ausgesprochen gerne hereingefallen bin („transplant“ ist das entsprechende Wort). Was aber hat es mit dem Verpflanzen auf sich, ein Begriff, der von Natur, Garten, Gewächs bis zu Herz und Niere aufs Engste mit dem Organischen verbunden ist – anders als das prothetische Implantat?

The Ambassador's Wife
The Ambassador’s Wife

Das Verpflanzen ist immer ein Ortswechsel. In Theresa Traore Dahlbergs The Ambassador’s Wife sieht man die Frau des französischen Botschafters in Burkina Faso beim Singen, Tennisspielen und Schwimmen, während die afrikanischen Angestellten in Hof und Garten sägen, hämmern und klopfen. Als ganz am Anfang das Bild eingerichtet wird und Madame fast aus der Kadrage rutscht, dachte ich, der Film könnte vielleicht interessant werden. Aber dann passiert doch nichts Rechtes mit Mensch und Umgebung außer der Erkenntnis, dass das eine nicht zum anderen passen mag – Lili Hinstin, die neben Virgil Vernier und Ulrich Köhler zu Gast war, nannte diese Anordnung im anschließenden Gespräch „too obvious“, sie hat nicht unrecht.

Sophia Antipolis eröffnet allein schon durch Erzählform und Material ganz andere Assoziationsräume. Schauplatz des Films ist der titelgebende Nicht-Ort zwischen Cannes, Nizza und Antibes an der Côte d’Azur. Vor knapp 50 Jahren wurde er als Unternehmenspark aus dem Boden gestampft, man spricht auch von einer französischen Version von Silicon Valley (unter anderem haben sich Unternehmen aus den Feldern Informationstechnologie, Medizin und Biotechnologie dort angesiedelt). Vernier reiht zunächst unverbunden Beobachtungen aneinander, die sich erst allmählich zu einer Erzählung mit subtilem Sci-Fi-Touch verdichten. Hauptfiguren konturieren sich, darunter zwei von Einsamkeit niedergedrückte Frauen, die Anschluss an eine Scientology-Gruppe finden, und eine Gruppe, die nachts zur faschistischen Bürgerwehr mutiert. Die Erzählung eines grausam ermordeten Mädchens namens Sophia durchdringt den Film mit einer tiefen, düsteren Traurigkeit und Melancholie wie seinerseits das Schicksal von Laura Palmer bei Lynch. Überhaupt, Melancholie ist so etwas wie die emotionale Wahrheit des Films. Gleich in der ersten Szene sieht man verschiedene junge Frauen mit einem Arzt ein Beratungsgespräch über Brust-OPs führen. Man kennt solche Szenen aus dem Trash-Fernsehen, sie sehen immer gleich aus, eine merkwürdige Synthese aus Silikon und Digitalbild. Anders bei Vernier. Hier wird das Künstliche, Prothetische, in die Zukunft Gerichtete nahezu ausgelöscht durch das wunderschön körnige 16-mm, das auf eine Vergangenheit weist, auf etwas unwiederbringlich Verlorenes, aber eben auch stark Naturhaftes. Der Analogfilm als „Urgewächs“ des Kinos, Vernier als eine Art Gärtner, der Beobachtungen aus dem „realen Leben“ unverbunden in eine lose Struktur verpflanzt, bis eine düstere Erzählung daraus zusammenwächst. Vernier bezog sich im Gespräch ganz explizit auf Baudelaires „Wald aus Zeichen“. Es gelte, diesen zu zerlegen und zu Entsprechungen („correspondences“) wieder neu zu verknüpfen.

Ulrich Köhler, Lili Hinstin, Virgil Vernier, Nino Klingler © Manuel Schäfer
Ulrich Köhler, Lili Hinstin, Virgil Vernier, Nino Klingler © Manuel Schäfer

Hier noch ein paar im Zickzack des Gesprächs aufgesammelte Momente: Ein Aufsatz von Ulrich Köhler von vor zehn Jahren („Why I don’t make political films“) und die Frage nach der „obviousness“. Die diverse Zusammensetzung der Bürgerwehr in Sophia Antipolis (zwei schwarze Männer sind dabei) und inwieweit künstlerische Entscheidung und das Abbild von Realität ineinandergreifen. Lili Hinstin nennt den Security-Bereich – sie spricht von französischen Verhältnissen – , der sich zu 80 Prozent aus People of Color zusammensetze, eine „neue Form der Sklaverei“ (denkt sie gerade mit James Baldwin weiter, der das amerikanische Gefängnissystem die Fortsetzung der Sklaverei mit anderen Mitteln nannte?). Eine Frau aus dem Publikum fragt: „Sind die nicht alle Aliens?“ Dunja Bialas’ Heterotopie-Implantat am Ende der Diskussion. Und, um zum Anfang des Textes zurückzukehren: Ulrich Köhler äußert Befremden darüber, dass sein Film In My Room in der französischen Kritik als ökologische Utopie ausgedeutet wurde. Jetzt könnte sich etwas verknüpfen.