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Film Text: FREIZEIT oder: das gegenteil von nichtstun

Film Text: FREIZEIT oder: das gegenteil von nichtstun

FREIZEIT oder: das gegenteil von nichtstun

Von Dunja Bialas

Ronald Schernikau sitzt 1980 im österreichischen Fernsehtalk „Club 2“, auf heroische Weise deplatziert in einem der mächtigen ockerfarbenen Ledersessel. Ausnahmsweise wird nicht geraucht. „Herr Schernikau“, wird er von der breitbeinigen Männerrunde angesprochen, „es heißt immer: die Jugend ist die Zukunft des Landes. In Ihrer ‚Kleinstadtnovelle‘ aber steht: Wichtig ist, dass sie dir beibringen: Es gibt keine Alternative zum Nichtstun. Was heißt das?“

Schernikaus Antwort: „Es gibt keine Alternative zum Nichtstun. Das kommt aus meiner Erfahrung aus der Schülermitverwaltung, dass nichts irgendwo anstieß. Man bekam Nischen und Freiräume für Podien und Diskussionsveranstaltungen. Und nichts, was passierte, rührte wirklich auch nur an irgendwelchem Selbstbewusstsein irgendeines Vertreters (der Lehrer oder dessen, was man als oben ansah), und ich glaube, das ist eine Erfahrung, die sich im Großen wiederholt.”

Schnitt. Von der Kleinstadt in die Großstadt, vom Fernsehen in den Film. Dazwischen liegt eine Zeitreise, willkommen in der Zukunft. Wir schreiben das Jahr 2018. Auf- und Umbruch liegen in der Berliner Luft, oder Stagnation, wer weiß das schon. Kräne wachsen in den Himmel, Brutalismus macht sich breit. Nichts ist fertig, die S-Bahn fährt rot-gelb durchs Bild. Das Leben im Innenraum: wird mit Symbolen gefüllt. Ein Jugendlicher bringt über dem Sofa eine geballte Faust an, hergestellt im stilisierten DIY-Kopierverfahren. Protest zwischen Urlaubsfotos. Daneben eine Postkarte: Besser Häuser zu besetzen als fremde Länder.

„Freizeit oder: das gegenteil von nichtstun“. Caroline Pitzens Film ist eine Art Fortsetzung und Anti-These zu Schernikaus „Kleinstadtnovelle“. Sie setzt fest, dass das Gegenteil von Nichtstun einfach nur die Freizeit ist, bei ihr mit Protest und Diskussionen angefüllt. Sie zeichnet noch einmal die Erfahrung von Schernikau nach, sich an den Kanten und Ecken der Welt zu stoßen, ohne dass diese sich verbiegen oder Dellen bekommen. Die Jugendlichen des Films wirken bisweilen niedergeschlagen, ratlos, in ihrem Protest vergeblich. Aber auch konzentriert und entschlossen. Sie wissen, dass es da draußen, außerhalb ihrer Blase, feindlich wird. Die Stadt ist das Krisengebiet, in dem sie unterwegs sind, hier herrschen Gentrifizierung und Geschlechterkampf, und die Resignation der Erwachsenen. Die Mittel ihres Kampfes sind: Selbstverteidigung, Selbstbehauptung und Weltbefragung. 

Die Problematisierung der Körper, die gescheiterten Lebensentwürfe der Elterngeneration. Das schwierige Geschlechterverhältnis. Die Jugendlichen wollen etwas anderes als das saturierte und problematisierte Leben. Und ich, während ich den Film sehe, frage mich: Denke ich, wie Eltern denken?

Getaktet von Mitbestimmung, „GSV“, Diskussionen über solidarische Arbeit und das Bedürfnis, ernst genommen zu werden, ist das Leben der Film-Jugendlichen. Mehr Aktivismus als Aktionismus. Diskussionen über die Werte, nach denen man strebt. Die Frage, wie man selbstbewusst sein kann. Ob man klarkommt mit dem System, und wie man sich gegen den Zwang wehren kann, gegen die vorgegebenen Wege. „Das ist ein stressiges Life“, sagt ein Schüler in mir ungewohntem Jargon, „sich für die Rechte der Schüler*innen und der Arbeitnehmer einzusetzen, anstatt einfach zur Arbeit zu gehen und sein Gehalt zu bekommen.“

Ich denke an meine Zeit des Schulaktionismus. Schülerstreik, weil die Wehrpflicht verlängert wurde. Wir haben sogar Sechstklässler zur Unterrichtszeit auf die Straße gelockt, der Direktoratsverweis folgte prompt, nur ich bekam keinen, weil ich ein Mädchen war. Das war diskriminierend. Ich möchte festhalten, dass ich eine der Rädelsführer*innen war und, okay, wir waren überhaupt die Vorreiter zu den späteren „Fridays for Future“, bei uns blieb es allerdings bei einem einzigen „Friday for Peace“. Der Weltfrieden und die atomare Abrüstung bewegten uns, aber wir standen damals ebenfalls unter Verdacht, eigentlich nur die Schule schwänzen zu wollen. 

Freizeit ist das Gegenteil von Nichtstun. Der Titel enthält nur auf den ersten Blick eine paradoxe These. Stattdessen tut sich ein hintertriebener Chiasmus auf der Basis vermeintlicher Synonyme auf, der während des Films immer deutlicher wird. Ich schaue auf die Film-Jugend der anderen und denke an meine. Hätte ich da mitdiskutiert? Bestimmt. Ich war SMV, war Die In, war Menschenkette, war Schülerzeitung. Wollte Nägel in Bäume schlagen, um die Rodung des Auenwaldes zu verhindern. Heute fühle ich mich schon subversiv, wenn ich Bier statt Wein trinke, kritisieren mich die Jugendlichen in dem Film. Sie gestehen mir respektive ihrer Elterngeneration ein Bedürfnis nach Sicherheit zu, und fragen: Wie wollen wir selbst leben? Was wir damals machten: sitzen, reden, trinken, rauchen und Musik hören. Das machen auch sie. 

Dann rüttelt mich ein Gespräch auf zwischen den Jugendlichen. Sie sprechen über das bayerische Polizeiaufgabengesetz. 30.000 Demonstranten gingen gegen das Gesetz auf die Straße, „und das in München“. Söder hatte sich in seinem ersten Amtsjahr als Scharfmacher positioniert. Gegen sein Gesetz, nach dem die Prävention von Straftaten der Polizei rechtsstaatlich bedenkliche Mittel in die Hand gibt, und seine gnadenlose Migrationspolitik kommt es in München 2018 unter #ausgehetzt zur gefühlt ersten Großdemonstration seit den Protesten gegen die atomare Wiederaufrüstung. „Söder södert, was das Zeug hält“, kommentierte ich frustriert auf Facebook und gehe zur Demo.

Das Gesetz wurde inzwischen überarbeitet, erfahre ich heute morgen in der Zeitung: „Mit der Novelle werde man die ‚Bürgerrechte stärken‘ und gleichzeitig sicherstellen, dass die Polizei weiterhin ‚hocheffektiv eingreifen‘ könne, um die Bürger vor Gefahren zu schützen. Die Dauer des Präventionsgewahrsams wird auf maximal einen Monat verkürzt, kann dann erneut ein Mal verlängert werden; bei längerem Gewahrsam wird ein Anwalt von Amts wegen beigeordnet.“ Mir fällt fast der Teebecher aus der Hand.

So geht es den ganzen Film über: ein stummer Dialog entspinnt sich zwischen den Film-Jugendlichen und mir, ein Pingpong aus gestreamten Bildern und artikulierten Diskursen von heute und meinem Stream of Consciousness, der das Damals hervorholt. Ich mische mich unter die Jugendlichen, zumindest in Gedanken, und diskutiere mit. 

Nicolas Boone, ein in der Pariser Peripherie lebender Regisseur, hat vor Jahren einen Film im Talking Style gemacht, wie die Woche der Kritik den diskurslebendigen „Freizeit: oder das gegenteil von nichtstun“ einordnet. An Boones Film muss ich immer wieder denken, während ich Caroline Pitzens Film sehe. „Un autre film comme les autres“ hieß er, „Noch ein Film wie die anderen“ (2016). In ihm diskutierten auf einer sehr unidyllischen Insel am Seine-Kanal Jugendliche über die „Nuit Debout“-Bewegung, die gegen die hohe Jugendarbeitslosigkeit und die Arbeitsrechtsreform der Regierung protestierten. Während sie auf dem Boden sitzen, rauchen, trinken und reden sie, wie die Jugendlichen bei Caroline Pitzen. Die Kamera umkreist sie, macht die Choreographie der Worte sichtbar.

Boone hatte Jugendliche auf der Straße angesprochen, sie gefragt, ob sie mitmachen wollen, ihnen eine kurze Skizze gegeben über das, was er vorhat. Ob sie spielen oder einfach nur sie selbst sind, ob sie sich selbst spielen und ob die Wirklichkeit inszeniert ist, ist obsolet. Auch bei Caroline Pitzen tut sich die vollkommene Illusion der realen Fiktion und der fiktiven Realität auf. Ohnehin ist die Welt nur vorstellbar, imaginär. Markus Koobs Kamera bettet die Jugendlichen in eine lebensweltliche Realität, und doch sind sie nicht in dieser drin. Sie verhandeln die Zukunft, nicht die Gegenwart. Ihre Zeit ist die „Freizeit“, freie Zeit, die nur ihnen gehört. Weder sieht man sie in der Schule noch in sogenannter „weisungsgebundener Arbeit“, die die Gesellschaft gemeinhin als einzige Form der Arbeit akzeptiert. Das kann es nicht sein. Und noch gibt es für die Jugendlichen eine Alternative zum Nichtstun, anders als für Schernikau im „Club 2“.

Der „Club 2“ war schon zur Zeit seiner Ausstrahlung Kult. In München konnte man das österreichische Fernsehen empfangen, und wir verpassten kaum eine breitbeinige Diskussionsrunde. Nach ihm hat sich ein Musik-Club genannt, der in den letzten Jahren undergroundige Konzerte in die Stadt holte. Ivi, der den „Club 2“ betreibt, trägt jetzt Briefe aus. Corona hat seinem Gegenentwurf des Nichtstuns ein Ende bereitet. Jetzt ist auch unsere Jugend vorbei.