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Up for Debate: Lost & Found

Möglichkeitenarchiv, 24. Februar 2021:

Ich erinnere mich an eine Frau, die ins Kino ging und dann, nachdem der Film vorüber war, ihren Namen nicht mehr wusste. Außerdem erinnere ich mich, von einem Film gehört zu haben, den niemand je gesehen hat. Der Regisseur war blind und der Kameramann, die Schauspieler_innen und alle Mitarbeitenden hatten bei der Arbeit verbundene Augen. Es wurde ein Meisterwerk, das nie in den Kanon einging. Ich erinnere mich, dass es in den späten 50er Jahren in Brasilien angeblich eine Gruppe indigener Filmemacher_innen gegeben haben soll, die mit einer gefundenen Kamera und altem Filmmaterial ihren Alltag dokumentierten, wie kein von außen Beauftragter es je hätte einfangen können. Tatsächlich sollen auch Aufnahmen von magischen Heilungen darunter sein. Zuletzt wurde ihr Standort in einem polnischen Archiv angegeben, doch verliert sich ihre Spur nach diesem Eintrag aus dem Jahr 1978. Ich erinnere mich an ein Geschwisterpaar aus Frankreich, die ihr gesamtes Leben miteinander verbrachten und Tagebuch führten über jeden Film, den sie zusammen im Kino sahen. Ich erinnere mich an eine Statistik, die besagt, dass die Zahl von privat im eigenen Wohnzimmer produzierten Pornos im Jahr 2020 höher war denn je zuvor. Ich erinnere mich an eine andere Statistik, aus der man entnehmen konnte, dass Filme, in denen die Farben Rosa und Lila vorherrschend sind, weniger deutlich erinnert werden als andere. Ich erinnere mich an eine Zeitungsmeldung über ein amerikanisches Forschungsteam, einberufen um zu eruieren, wann das erste Video von einer im Wind fliegenden Plastiktüte gedreht wurde.

Ich erinnere mich nicht an meinen ersten Film im Kino. Aber ich erinnere mich, dass ich bei einem Film, wo ein Rudel Huskys in der Arktis überwintern muss, so heftig geweint habe wie noch nie. Ich erinnere mich, wie mein Vater mir als Kind die Filme »E.T.« und »Jurassic Park« zeigte. Ich erinnere mich, dass ich als Jugendliche eine Verfilmung von »Stolz und Vorurteil« so oft ansah, bis ich sie mitsprechen konnte. Ich erinnere mich, wie meine Mitbewohnerin mir das erste Mal das Lied »Let it go« aus »Frozen« in 25 Sprachen vorsang. Ich erinnere mich nicht an meinen ersten 3D-Film. Ich erinnere mich an Filme mit gewaltvollen Liebesszenen. Ich erinnere mich an Filme mit der Schauspielerin, die immer schaut, als würde sie gleich weggehen. Ich erinnere mich nicht daran, ob ich je einen Film sah, der eine befreite Gesellschaft darstellen konnte. Ich erinnere mich an einen Film, den ich einmal zufällig im Flugzeug schaute und der genau davon handelte, was mir im Ausland passiert war. Ich erinnere mich, wie ich einen Film ansah und erst in den letzten fünf Minuten begriff, dass ich ihn zuvor schon einmal gesehen hatte. Ich erinnere mich an einen Film, der alles, was ich tue, enthält.

Olivia Golde, Schriftstellerin, Leipzig

 

Ein Video der Debatte finden Sie hier.