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Up for Debate: Facing Traces

Up for Debate: Facing Traces

Facing Traces

Von Petra Palmer

Der Essayfilm beginnt mit der Herkunft von Suneil Sanzgiris Familie – in einer 3D Animation wird man in die Berge von Kaschmir verortet. Suneils Vater erklärt die Herkunft des Familennamens. Der Berg hat sich in den Namen seiner Familie eingeschrieben. Am Bildrand eine -Mobiltelefon-Konversation zwischen Suneil und seinem Vater. Dann eine Performance des Gedichts, über dessen Urheber sie in der Nachricht schreiben: “Dear Shahid, I am writing to you from your far-off country, far even from us who live here. Where you no longer are.” Der kaschmirische Poet Aga Shahid Ali, der 1976 in die USA ausgewandert ist, schrieb diesen Brief in Form eines Gedichts 1996 aus dem Exil an sich selbst. Dieses Land existiert nur noch in der Erinnerung, auch derer, die dort zurückgeblieben sind. Somit scheint dieser Brief eher eine andere Zeit als an einen Ort adressiert. In seinem Essay verbindet Suneil Sanzgiri Ereignisse des politischen Widerstands in Indien zu verschiedenen Zeiten und an unterschiedlichen Orten mit biografischen Informationen, die zu Bezugsräumen der Gegenwart und zu Projektionsräumen der Erinnerung werden. “What is one’s claim to the past, and how do biography and history collide?”  Diese Fragen stellt Suneil Sanzgiri in Letter from Your Far-off Country und nimmt als Ausgangspunkt sein Geburtsjahr 1989. 

Auch Suneil Sanzgiri übernimmt die Briefform, um an einen entfernten Verwandten zu schreiben und auch dieser Brief richtet sich an die Vergangenheit – der Adressat ist ein verstorbener Onkel, der Vorsitzender der kommunistischen Partei war. Suneils Vater liest den Brief vor. In der Stimme des Vaters eine Bedeutung, die über die persönliche Adressierung an den Onkel hinausgeht. Durch die Verschiebung von Autor und Zuhörer wird der Inhalt des Briefes zur persönlichen Perspektive auf Geschichte. Beide Briefe sind eine Art Zeugenschaft und vergewissern sich gleichzeitig des Selbst – der eigenen Stimme, die in der eines anderen hörbar wird. Die Ereignisse und Veränderungen seit Suneil Sanzgiris Geburt sind Koordinaten, die  zu einem Orientierungsraum verbunden werden. 

Wie wirken historische Ereignisse auf das eigene Leben? Welche Traumata übertragen sich in der Familie und welche Bezugspunkte haben diese? Was bedeutet die Spurensuche in der Vergangenheit der Familie für die eigene Verortung und wie wird diese Perspektive ins Verhältnis zur Geschichte gesetzt? Nicht nur im Film bleiben zwischen den gezeigten Ereignissen, den Briefen und Stimmen Leerstellen zurück – in Biografien und Geschichte gibt es das Bedürfnis, Kohärenz und Kausalität herzustellen. Wie entsteht die eigene Subjektivität im Bezug zur Vergangenheit – wie stark ist man durch sie determiniert? Wie können Geschichtsnarrative neu konstruiert werden und was bedeutet dies für die Zukunft? Was bedeutet die Unterbrechung von vermeintlicher Linearität, wie kann Geschichte gelesen werden?

Das sind Fragen, die über Suneil Sanzgiris Essayfilm und seine Biographie hinausgehen. How we connect, how we comprehend is up to us.

Spuren im eigentlichen Sinn sind Abdrücke, eine Art Hinterlassenschaft von etwas, das existierte und von dem nur noch die vage Evidenz der Existenz zurückbleibt. In El cielo está rojo sucht man auf den Bildern ebenfalls vergeblich nach Evidenz. Der Film versucht das verheerende Feuer im Gefängnis von San Miguel in Santiago de Chile zu rekonstruieren, bei dem 81 Personen umkamen. Welche Spuren befinden sich auf den Aufnahmen der Überwachungskameras des Gefängnisses, deren automatische Bildaufzeichnung während des Feuers mitunter einer Zufälligkeit unterworfen war? Sie liefen ununterbrochen und zeichneten alles auf, statt jedoch entscheidende Momente zu zeigen, die den Hergang des Geschehens offenlegen, eine Art Leerstelle zeigen. Was zeigen diese Leerstellen und welche Erkenntnisse gehen über das Zeigen und die Offenlegung des Materials der Überwachungskameras hinaus? Die Leerstellen werden mit Reenactments und durch Interviews mit Augenzeugen rekonstruiert. Dann hört man irgendwann die Stimmen, die Schreie, die aus dem Inneren des Gebäudes zum Zeitpunkt der Katastrophe aufgenommen wurden – sie machen die Evidenz des Ereignisses schier unerträglich und doch real, um das Unbeschreibliche zu belegen. Die Erinnerung der Zeugen verblasst, sie möchten vergessen, verdrängen, sie revidieren ihre Aussagen, es bleiben ungeklärte Leerstellen.

In der Literatur unterscheidet man zwischen Leerstellen eines Textes und Unbestimmtheitsstellen. Was bedeuten diese für Biographien, Geschichtsnarrative oder ein Ereignis wie den Gefängnisbrand? Wie können diese Leerstellen und Unbestimmtheitsstellen gelesen werden und mit wurden sie mit Absicht erzeugt? Was sind die Implikationen für diese Stellen und welche Konsequenzen haben sie für das, was die Wahrheit sein könnte? Die Abwesenheit der Spuren unterbricht die Kohärenz eines Textes und produziert doch das Narrativ. Dazwischen entstehen bei Letter from Your Far-off Country die alltäglichen Mythen – oder im Fall von El cielo está rojo, die Resignation über eine Katastrophe, die nicht aufgeklärt werden soll.

 

Ein Video der Debatte finden Sie hier.