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Durchblick vs. Überblick

Von Dennis Vetter

Durchblick ist ein Begriff, der etwas unterstellt: Dass Wissen und Sehen untrennbar miteinander zusammenhängen. Den Durchblick zu haben, heißt scheinbar, sich auszukennen, einer Situation voraus zu sein und beinahe vorauszusehen, in welche Richtung sie sich entwickeln könnte. Wer den Durchblick hat, sieht den Dingen ihr Wesen an.

Ist es möglich, einen Film zu durchblicken, ihn vollends zu ergründen? Obwohl sich Bilder nie vollständig versprachlichen und rationalisieren lassen? Das Kino als eine Form, die Bilder in den Fluss der Zeit setzt, entflieht der Sprache und gleichermaßen dem vollständigen Zugriff des Blicks. Ganze Realitäten werden im Zeitfluss des Films auf Augenblicke reduziert. Das Kino widersetzt sich dem Durchblick des Publikums und behauptet gleichermaßen, ihn selbst innezuhaben. Regisseur*innen, Editor*innen und Kameraleute erarbeiten Bilder und Bildfolgen, die etwas durchscheinen lassen sollen. Bildfolgen, die auf etwas verweisen sollen, was ihnen zu Grunde liegt.

Den Überblick haben im Kino, Kinokenner*in sein: Die Filmgeschichte ergründen, Daten und Fakten sammeln, die Stimmen des Kinos hören, seine Ankerpunkte verorten, seine Strategien entschlüsseln, seine Systeme studieren. Sehen, was hinter den Bildern liegt. Wissen, was die Entstehung eines Film geprägt hat. Überblick ist nicht das gleiche wie Durchblick, beide werden unangenehm häufig miteinander verwechselt. Deshalb denken viele, es gäbe Expert*innen des Kinos, die sprechen dürfen, wenn andere zu schweigen haben. Einige Regisseur*innen glauben, selbst Expert*innen zu sein und stellen lieber ihr Wissen zur Schau, als sich an Visionen zu wagen. Sind Kritiker*innen und Programmleute dafür verantwortlich, weil sie sich gerne die Hände mit denen schütteln, die ihnen ihren Überblick als Durchblick auslegen?

Andere Begriffe des Bilddenkens: Durchlässigkeit und Transparenz. Die Grundlagen des eigenen Wissens und der eigenen Methoden offenlegen. Dazu stehen, Filme nicht aufgrund von Wissen, sondern gegen besseres Wissen zu zeigen, weil sie einem keine Wahl lassen und sich für ein Programm nicht anbieten, sondern weil sie dafür unentbehrlich sind. Filme zu machen, weil sie unverzichtbar sind und die Bilder nicht unterschlagen werden dürfen, obwohl sie die eigenen Gewissheiten widerlegen. Transparenz beim Sehen: Sich von den Bildern durchleuchten lassen, dabei sichtbar und greifbar werden in der Welt und für die Welt. Ein starkes Bild entblößt nicht mir die Welt, sondern mich vor den Menschen, mit denen ich es erlebe.

Die Zwischenräume der Bilder ebenso sehen, wie die Bilder selbst. Die ästhetischen Brüche ebenso wie die Errungenschaften auskosten. Transparenz und Durchlässigkeit sind für den Überblick nicht förderlich, aber vielleicht die ersten Schritte zum Durchblick. Zumindest haben sie ganz gute Aussichten.

 

Ein Video der Debatte finden Sie hier. Das Gespräch “Filmmakers Talk Back” mit den Filmemacher*innen des Kurzfilmprogramms ist außerdem hier zu sehen.