Blog #1/18 - Unter der Zirkuskuppel: ratlos
von Jan Künemund
Niemand scheint die Verantwortung für diese Zahl übernehmen zu wollen. Ein „Potenzial von 250.000 Zuschauenden“ soll laut ihren neuen Leitlinien ein Filmprojekt haben, damit es von der FFA Förderung erwarten kann. Nur in den Circus Maximus im antiken Rom, das größte Stadion der Welt, hätten die alle auf einmal hineingepasst. Eine gemeinschaftlich hergestellte Wirklichkeit, die aus lauter Fremden ein Publikum macht und eine Aufführung zu einem komplexen temporären Gebilde werden lässt, ist durch eine solche Zahl, die sich in Fällen wie Wendy 2 oder Fack ju Göhte 3 nach mehreren Wochen irgendwie zusammenläppert, schwer fassbar zu machen. Doch sie steht im Raum, als Konkretion und Sehnsuchtsszenario für den deutschen Film, als Ausweis für eine gelingende Kommunikation zwischen Menschen und Filmen in Deutschland, für die Relevanz der dazwischen und drin hängenden Branche.
Im Zelt des Mitmachzirkus CABUWAZI, in dem als Auftakt der Woche der Kritik Ideen über das Kinopublikum zusammengetragen wurden, waren Wendy und Göhte kein Thema. Das Publikum saß drei Stunden ohne Pause auf harten Bänken, ein Gebläse wirbelte gleich bei der Begrüßung die Bourdieu-Zitate durcheinander, und statt Gladiatorenkämpfen konnte man im ersten Teil den Rollenspielen deutscher Branchenfunktionäre und im zweiten den Emanzipationsbemühungen von Künstler_innen, Kurator_innen und „Whatevers“ (Marie-Pierre Duhamel) aus dem vermittlungsbedürftigen Raum des künstlerisch wertvollen Films beiwohnen. Eine temporäre Gemeinschaft an einem temporären Ort, zwischen flexibler Naherholung und einer Wohnanlage für Geflüchtete, die sich mit einem diffusen Gebilde auseinandersetzte, das wenig Anlass zur Diskussion gab.
Was also ist das Publikum? Die Idee, dass es einen fortwährend ärgert, weil es nicht in die guten Filme geht, diente als Prämisse der Veranstaltung. Dass es einen grundsätzlichen Wert hat, sobald es Circus-Maximus-Größe erreicht, die zum Kopfschütteln freigegebene, dazugeladene Gegenposition. Aber auf allzu idealtypische Differenzierungen hatte an diesem Abend niemand Lust, nicht auf die zwischen wirtschaftlichem und kulturellem Wert, nicht auf die zwischen Publikumsverständnis und -verachtung, nicht auf die zwischen Kunst und Unterhaltung.
Für die Branchenvertretenden (Christian Bräuer für die Yorck-Gruppe und die AG Kino, Maria Köpf für die Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein, Stephan Wagner für den Bundesverband Regie im FFA-Verwaltungsrat, Anna de Paoli für die an Filmhochschulen vermittelte Praxis der Filmproduktion) ist das Publikum ein umkämpftes, zerstreutes, undurchsichtiges, von zu vielen Filmen abgelenktes, von Netflix abgeworbenes, von zu wenig Marketing angezieltes Gegenüber, das sich nur als Abstraktum, also in Zuschauerzahlen messen lässt und eigentlich mit dem Geld gleichgesetzt wird, das man damit machen kann. Für die 250.000 wurde zwar keine Autorschaft übernommen, aber sie wurde verteidigt: als Sieb-Element im Überangebot, als Unterstützung für Zugpferde, die die kleinen Filme mitschleppen, als selbstbewusster Ruf nach einem „großen deutschen Film“, der die Menschen von ihren kleinen Screens weglockt.
Frédéric Jaegers Moderation ist davon nicht überrascht und unternimmt einen Versuch, die Lobbyisten aus ihrer auch von der Veranstaltung geschriebenen Rolle fallen zu lassen: Wie riecht denn euer Publikum? Was isst es? Reist es ins Ausland? Wann geht es schlafen? Ist es rassistisch? Dieses Mitmachzirkus-Angebot wurde von den Panelist_innen ausgeschlagen. Ist ja auch egal, wie jemand riecht, solange er acht Euro zahlt. Als im zweiten Teil ein Kinopublikum jenseits von Zuschauerzahlen entworfen wurde, war die deutsche Filmbranche verschwunden.
Wie also kann man das Bild vom Publikum anders ausmalen? Kulturwissenschaftliche Zitate wurden verlesen, die es wahlweise als Institution, als Masse, als Macht oder zweiten Autor konfigurierten. Die neue Runde unter der Zirkuskuppel stellt neue Differenzierungen vor. Sie möchte, dass ihre Filme nicht gesehen, sondern geliebt werden, gibt Filmemacherin Rebecca Zlotowski zu. Kuratorin Marie-Pierre Duhamel bringt Serge Daneys Unterscheidung von Publikum und Zuschauenden ins Spiel. Die „gemeinsame Erfahrung“ ist in der aktuellen Festival- und Kinosituation, die nach Zahlen malt, eine Illusion, sagt Kurator, Wissenschaftler und Filmkritiker Chris Fujiwara. Wer kann sich auf der Berlinale mit ihren knapp 400 Filmen schon über das Gleiche unterhalten. Und das Grundübel ist überhaupt die Segmentierung des Publikums in marktgerechte Zielgruppen, die sich algorithmisch ausrechnen lassen.
Programme zu gestalten für die, die mehr und mehr daran gewöhnt sind, Playlists zu erstellen, stellen die „Whatevers“ als Herausforderung im Umgang mit dem „organischen Monster“ (Kleber Mendonça Filho) Publikum dar. Also muss es doch angelockt, erzogen und ausgebildet werden. Und man kann auch etwas von ihm verlangen: „Handys aus!“ (Duhamel). Dann könne sich das Potenzial der temporären Gemeinschaften entfalten, ihre Intelligenz, die sich nicht ausrechnen und abfragen ließe. Christoph Hochhäusler erwähnt, dass Frank Capra die körperlichen Reaktionen seines Publikums mitschneiden ließ, weil er den Testcards nicht mehr traute.
Im Zirkuszelt verliert sich das Publikum schnell nach den beiden Gesprächsrunden. Ich lerne noch einen jungen Mann kennen, der „Audience Design“ als Geschäftsidee für Filmproduzent_innen verkaufen möchte, als Posten, den man direkt in den Förderantrag schreiben könnte. Nicht nur den Film zu produzieren sondern sein Publikum gleich mit, das wäre für ihn die Lösung. In der Berlinale-Sektion Forum läuft dieses Jahr ein Dokumentarfilm mit dem Titel Aggregat, der u.a. recherchiert, wie sich Politiker ihr Volk vorstellen. Einer spricht da ernüchtert von „abgehängten Zielgruppen“.