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Blog #5/17 - Ärmlich und üppig

Blog #5/17 - Bescheiden und üppig

von Eugenio Renzi

Gestern Abend kam im Kinosaal der Woche der Kritik ein großes Publikum zusammen, um Alexandre Koberidzes Film „Lass den Sommer nie wieder kommen“ zu sehen. Wie an jedem Abend folgte auf die Vorführung eine Debatte, an diesem Abend mit dem Regisseur und zwei Gästen. Sprechen wir aber zuerst vom Film.

“Lass den Sommer nie wieder kommen” ist ein Film von drei Stunden und zwanzig Minuten. Diese an sich schon unübliche Dauer wird von einem ungewöhnlichen formalen Dispositiv getragen. Von drei kurzen, in HD gedrehten Unterbrechungen abgesehen – von denen noch die Rede sein wird – sind die rund 200 Minuten des Films im Wesentlichen mit der Videokamera eines älteren Mobiltelefons gedreht. Eine Üppigkeit der Dauer auf der einen Seite, ein bescheidenes Dispositiv auf der anderen, diese beiden Elemente scheinen komplementär zueinander, aber das Ergebnis ist weitaus komplexer.

Tatsächlich nämlich verleiht die Wahl dieses technischen Mittels, das wir zunächst als bescheiden bezeichnet haben, dem Film eine völlig unerwartete Qualität, eine üppige Tonalität. Die extrem sichtbaren Pixel, das klassische Format 4:3 und die sehr reduzierte Farbpalette erzeugen zusammen einen Eindruck, der den Erwartungen völlig entgegenläuft: den einer Opulenz der Details, einer majestätischen Bildgestaltung und leuchtender, lebendiger Farben. Hier liegt die erste Dialektik eines Films, der von der Poetik einer verkehrten Welt, des Oxymorons und des Nebeneinanders von Widersprüchlichem gekennzeichnet ist.

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Formal gesehen erzeugen die niedrig aufgelösten Aufnahmen und das „Academy“-Format zunächst den Eindruck einer vergangenen Zeit. Aber welcher? Es geht hier nicht um eine lang zurückliegende Zeit. Der Film beginnt in Tiflis, Georgien. Die Bilder zeugen von einer maßvollen Moderne. Zu Anfang sehen wir vor allem Züge. Dabei muss man berücksichtigen, dass der Zug im Film ein ganz besonderes Fortbewegungsmittel ist. Es ist das Symbol der ersten Filme. Und in der Arbeit Alexandre Koberidzes gibt es zahlreiche „Vues lumières“. Andererseits ist sein Kino ganz und gar nicht eines der reinen Aufzeichnung der Welt. Schon die ersten Einstellungen scheinen von einer großen Lust getragen. Jede einzelne von ihnen ist von der reinen Möglichkeit, die Stadt und ihre Attraktionen durch die Kamera aufleben zu lassen, motiviert. Aber es geht nicht um stille Betrachtung. Schon von Beginn an wird eine bestimmte und selbstbewusste Inszenierung sichtbar. Schon von Beginn an deutet sich ein Spielfilm an, mit drei Teilen. Der erste handelt von einem Protagonisten, im Film schlicht als „young man“ bezeichnet, der auf der Suche nach einem Engagement als Tänzer in die Stadt gekommen ist. Auf dieser Suche begegnet er, das ist der zweite Teil, einem Polizisten. Nachdem er eine Arbeit gefunden hat, trennt er sich schließlich vom Polizisten, der dritte Teil.

Die Zeit erscheint also als die „wiedergefundene“ einer Erzählung, die linear fortschreitet. Aber auch in dieser Hinsicht ist das Dispositiv des Films recht vielgestaltig. Dem Einsatz der „Vues Lumières“, die wir schon erwähnt haben, sind andere Elemente, vor allem akustische, entgegengestellt. Das erste sind die direkten Dialoge. Sie tauchen plötzlich auf, fast wie ein Hintergrundgeräusch, das sich zudem kaum von den Klängen der Stadt unterscheidet. Diese Dialoge werden nicht übersetzt. An die Stelle der Übersetzung treten englische Untertitel, die – wenn sie auch die Form eines Untertitels haben – doch eher die Rolle der Zwischentitel in alten Stummfilmen spielen.

Auch dieses archaische Element funktioniert auf zweierlei Weise. Einerseits verweist es die Zuschauer_innen auf das frühe Kino. Gleichzeitig aber deutet es in die entgegengesetzte Richtung: die eines „wiedergefundenen“ Kinos. Es ist so, als wäre der Film, den wir schauen, ein zunächst verlorenes und dann wiedergefundenes Dokument, begleitet von einer Stimme – der der Untertitel – die im Nachhinein versucht, eine Geschichte zu rekonstruieren. Wie kann man diese Stimme zeitlich verorten? Statt sie zu verorten, müssen wir vielmehr verstehen, in welche Richtung sie weist: in die den Bildern entgegengesetzte. Aus diesem Widerspruch entsteht der Eindruck einer Zirkularität, einer Rückkehr. In diesem Vektor mit zwei Pfeilen liegt offensichtlich eine gewisse Ironie: sie erinnert in gewisser Weise an deren Definition in Eisensteins Aufsatz „Eine nicht gleichmütige Natur“. Er erklärt darin, dass der ironische Moment im Bild durch den Verweis auf zwei entgegengesetzte Richtungen bestimmt wird. Ein Beispiel dafür ist eine Zeichnung, in der ein Schild mit der Aufschrift „Ausgang“, das nach rechts weist, sich in einem größeren Schild findet, das diese Richtung links des Bildes verortet.

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Diese komische Seite ist im Film durchaus da, wird aber zugleich abgestritten. Die in HD gedrehten Einschübe, die sich drei Mal wiederholen, untermauern den Eindruck der Zirkularität. Die Offstimme erzählt, in der ersten Person, von Erinnerungen an den Krieg. Am Tag des Kriegsbeginns wird der Strom unterbrochen. Die Butter im Kühlschrank schmilzt in der Sommerhitze. Der Erzähler verbindet den Geruch der geschmolzenen Butter mit dem Beginn des Konflikts (angesichts dieses so ausdrücklich proustianischen Einschubs muss man zwangsläufig an den dieser Tage im Netz zirkulierenden Film denken, in dem mitten im Defilee der zur Hochzeit der Gräfin CCC versammelten Aristokraten flüchtig die Silhouette eines Dandys mit Melone erscheint, in dem die Experten mit großer Sicherheit den späteren Autor der Recherche ausmachen). Diese kurze Sequenz korrespondiert ziemlich deutlich mit dem Titel des Films und in gewisser Weise mit der Beschwörung, die in ihm enthalten ist: mach dass der Sommer (und also der Krieg) nicht wiederkommen möge. Während der Debatte kam der Regisseur auf diese paradoxe Formel zu sprechen, auf diese weitere Umkehrung, die im Ausdruck „mach, dass er nicht“ liegt, ein Nichteinschreiten für das Einschreiten. Aus dieser Umkehrung erwächst aus den Trümmern der Zirkularität eine tragische Seite des Films, der an die Seite der oben kurz erwähnten komischen tritt und neben ihr besteht. Die Negation der Zirkularität ist der Taumel. Dieser Taumel wird vor allem durch die Musik erzeugt. Sie erscheint auf völlig unvorhersehbare Weise und erlegt den Bildern, die im Abgrund der Noten versinken, stets aufs Neue überraschende Stimmungen auf, mal episch, mal intim, mal pikaresk.

Das es sich bei “Let the summer never come again” um einen titanenhaften Film handelt, ist das Mindeste, das sich sagen lässt. Es ist ein Film am Rande des Kinos. Ein Rand, der vor allem von Godard erkundet wurde (an den man häufig denken muss, wenn man Koberidzes Arbeit sieht). In diesem Randbereich begegnen sich Aufzeichnung und Inszenierung, Geräusch und Rede, Sinn (Vernunft) und Sinne (die reine Empfindsamkeit) – eine unvermittelte Begegnung. Es ist keine Begegnung auf halbem Weg, sondern die Wiederbegegnung von Gegensätzen, die ineinander überfließen. Es ist auch der Randbereich der filmischen Erfahrung: Koberidze zwingt den Zuschauer dazu, Sinn zwischen einer Einstellung und der anderen zu finden und sich gleichzeitig der reinen Schönheit der Bilder und Töne hinzugeben.

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An der Debatte nehmen die Künstlerin Ruth Anderwald, Pip Chodorov, der als Kritiker, Verleiher und Kurator arbeitet, und der Regisseur des Films, Alexandre Koberidze, teil. Oft fangen Debatten mit sehr allgemeinen Fragen an. Das Gespräch über Let the Summer… dagegen beginnt auf dem richtigen Fuß. Man geht den Film mit voller Kraft an, mit einer genau bestimmten Szene: dem Monolog des Polizisten. In Wirklichkeit ist es ein Dialog zwischen dem Polizisten und dem Young Man. Da aber nur der Polizist spricht, während der andere zuhört und eine Katze streichelt, ist der Monolog vielleicht doch der passendere Begriff. Die Untertitel geben hier nur das Thema wieder: den Verkauf eines Gebrauchtwagens. Aber spricht der Polizist wirklich davon? Der Regisseur behauptet, dass dem so sei. Er wollte eine Szene, in der ein ganz alltägliches Gespräch stattfindet. Aber die Details seien nicht wichtig, deswegen musste der Monolog nicht übersetzt werden und bleibt daher für diejenigen, die des Georgischen nicht mächtig sind, unverständlich, wie eine Art Musik oder Hintergrundgeräusch…

Die Debatte wurde durch den Versuch animiert, die formale Kühnheit des Films herauszustellen und sie begrifflich festzulegen. Aber jede Definition erscheint unvollständig. Denn was den Film ausmacht ist eben, dass er sich beständig selbst widerlegt und noch aus dieser Widerlegung ausbricht. Den klarsten und bestimmtesten Begriff schlägt Pip vor, der den Film im Flickern findet, in der Intermittenz. Dazu muss man zunächst verdeutlichen, welche Rolle das Licht im Film spielt, sein digitales Blenden und Blitzen. Und dann herausarbeiten, auf welche Weise das Flickern eine Metapher darstellt, die die Arbeitsweise des Regisseurs verständlich macht, seine Reihung von Gegensätzen, die in einer solchen Geschwindigkeit stattfindet, dass sie an der Grenze von Kontinuität und Diskontinuität steht, dass dieses Spiel selbst an der Grenze von Sichtbarem und Unsichtbarem stattfindet.

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Daraus entsteht ganz natürlich die Frage: wie macht man einen solchen Film, einen Film, der zugleich sehr durchdacht und sehr improvisiert ist… Auch hier Flickern: Alexandre Koberidze betont, dass er ein sehr genaues Drehbuch geschrieben und sich daran gehalten hat. Dieses Drehbuch aber war für einen Kurzfilm gedacht. Es bleibt also zu fragen, wie man einen solchen Fluss von einem Film konstruiert – durch Intuition? Oder durch genaue Kontrolle? Dadurch, dass man die Kontrolle verliert? Aber kann man die Kontrolle überhaupt (absichtlich) verlieren? Koberidzes Antwort ist erneut eine Metapher: um zu schildern, wie für ihn das Ideal des Filmkunst aussieht, erzählt er von der kreativen Eingebung im Fußball. Als Beispiel zitiert er Lionel Messi, der zu solch genialen Kunststücken in der Lage ist, dass er selber es nicht vermag, sie zu wiederholen. In der Filmkunst passiert etwas dieser Art. Es handelt sich um eine Forschung: Koberidze betont, dass diese für ihn vor allem mit der Wahl seiner Kamera verbunden ist, die eine genaue Suche nach Orten verlangt, an denen die Stadt und das Licht dazu geeignet sind, mit dieser Art von Auflösung schöne Bilder herzustellen. Es gibt also eine Technik. Aber auch eine Dosis unwiederbringlicher Eingebung, nur für den Moment.

(aus dem Italienischen von Michael Hack)

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