Menü

Das Filmprogramm der Woche der Kritik 2022

News, News 2022

Das Filmprogramm der Woche der Kritik 2022

Das Filmprogramm der Woche der Kritik 2022

Was philippinischer Punk mit männlichem Feminismus und Shakespeare zu tun hat. Wie sich Cinephilie mit brasilianischen Telenovelas und Fetisch verträgt. Was die Freiheit der Kunst mit Arbeit, Sex und Rock ’n’ Roll verbindet. Wie das Kino mit neuen Bildern die Stolpersteine der Geschichte überwindet. Von der Kritik und dem Filmemachen, die die Vergangenheit kennen und doch ganz im Moment sind. Zur Frage, ob das Publikum nur glaubt, was es sieht, und ob im Kino das Probieren übers Studieren geht. Und schließlich: Neues und Altes zum Aufstand des Analogen in der digitalen Gegenwart. Das Filmprogramm der 8. Woche der Kritik ist komplett.

Die Veranstaltung findet vom 9. bis 17. Februar 2022 statt. Das Filmprogramm beginnt am Donnerstag den 10. Februar im Hackesche Höfe Kino.

Der Abschluss der diesjährigen Woche der Kritik wird legendär: Unter dem Titel Mythunderstanding diskutieren wir, was Regisseur*innen und Schauspieler*innen daran reizt, die großen Erzählungen und Held*innen der Kunstgeschichte in die Mangel zu nehmen – und mit welchen Mitteln Filme selbst moderne Mythen erschaffen. Und das alles zwischen Klassik und Punk: Wir zeigen Khavns neues Film-Poem Love Is a Dog from Hell, gefolgt von Sycorax, der ersten gemeinsamen Regiearbeit von Lois Patiño und Matías Piñeiro. Khavn knüpft an seine jüngste Zusammenarbeit mit Alexander Kluge an und inszeniert Lilith Stangenberg in einem infernalischen Musical als Orpheus’ singende Zwillingsschwester, die zwischen Manila und der Unterwelt nach ihrem Geliebten sucht. Sycorax spürt der gleichnamigen Hexe aus Shakespeares Der Sturm nach, die im Stück selbst nie in Erscheinung tritt. Auf ihrer Fährte und in der Zusammenarbeit mit Laiendarsteller*innen haben die Regisseure ein rätselhaftes Wunderwerk geschaffen, das keine Auflösung bietet und mächtig nachhallt.

Unter dem Titel Footage Fetish begrüßen wir eine Ikone des Experimentalfilms und des brasilianischen Kinos: Wir zeigen Capitu and the Chapter von Júlio Bressane, eine freie Adaption des bedeutenden brasilianischen Romans über Lust, Eifersucht und Paranoia: Dom Casmurro von Joaquim Maria Machado de Assis. Im historischen Spannungsfeld um den Roman setzt Bressane novelas ins Verhältnis zu telenovelas und fragt sich, was ein Literaturklassiker mit der explodierenden Industrie hinter lateinamerikanischen TV-Seifenopern zu tun hat. Bressanes Film eröffnet ein Treffen der Generationen: Wir zeigen Capitu and the Chapter mit André Antônios Kurzfilm Venus in Nykes und leiten eine Debatte zu etablierten und neuen Positionen des brasilianischen Kinos ein, zu Voyeurismus, Filmfetisch und Cinephilie, zur Arbeit mit und an der Filmgeschichte sowie zu Bressanes besonderen Umgang mit seinem eigenen Bildarchiv.

Wir waren so frei: In Zusammenarbeit mit der georgischen Regisseurin Dea Kulumbegashvili, die mit ihrem Langfilmdebüt Beginning die Aufmerksamkeit der internationalen Filmkritik auf sich zog, haben Petra Palmer und Dennis Vetter für die Woche der Kritik ein Programm mit drei Filmen zusammengestellt, das sowohl die Freiheitsbegriffe des Kinos als auch die programmatischen Routinen von Filmfestivals auf die Probe stellt: Nach der Projektion von Azul Aizenbergs The Stonebreakers, Friday Night Stand von Jan Soldat und Inu-Oh von Masaaki Yuasa laden wir zu einer Debatte über die Freigeistigkeit des Kinos ein und philosophieren über entfesselte Körper, Arbeiter*innenaufstände, zügellose Montage, sexuelle Selbstbestimmung und Rock ’n’ Roll. Azul Aizenberg stellt in ihrem Essayfilm infrage, was filmhistorisch zusammengehört, Jan Soldat zeigt schwule Männer beim Sex, und der Visionär Masaaki Yuasa erfindet die Geschichte des japanischen Noh-Theaters für seinen neuen Film ohne Hemmungen einfach neu. Der Titel und das Credo des Abends: Libertine!

Auf urbane Abwege, ästhetische Umwege, zu politischen Auswegen und zu einer weiteren Debatte führt das Programm Tripping mit Detours von Ekaterina Selenkina und Nosferasta: First Bite von Adam Khalil und Bayley Sweitzer, die ihren Film in Zusammenarbeit mit dem Musiker, Künstler und Koch Oba realisiert haben. Zwischen postkolonialem Vampirfilm, experimenteller Komödie und dokumentarischem Essay begleiten Khalil und Sweitzer ihren Protagonisten durch das New York der Gegenwart, in dem die Einflüsse des Blutsaugers Christoph Kolumbus noch überdeutlich nachhallen. Bei Detours ist der Titel Programm: Ekaterina Selenkina folgt einem Dealer durch Moskau und inszeniert in ihrem Debütfilm eine raffinierte, räumliche Dramaturgie, die eine Topografie der Stadt entwirft, ebenso aber ein Bild ihrer Bewohner*innen und der Strukturen der russischen Gesellschaft zeichnet. Wir freuen uns auf eine Debatte zur Unberechenbarkeit des Kinos, zu filmischen Fallstricken und kuratorischen Einbahnstraßen.

Zum dritten Mal erprobt die Woche der Kritik ein Debattenformat, das sich ganz auf die Perspektiven der Filmkritik konzentriert: In einem Streitgespräch laden wir internationale Schreiber*innen ein, kein Blatt vor den Mund zu nehmen und in aller Offenheit auf Pascale Bodets absurde Komödie Edouard and Charles sowie Norbert Pfaffenbichlers experimentellen Gruselfilm 2551.01 zu reagieren. Während Bodet die Kunstgeschichte in eine historische Fantasie übersetzt, formuliert Pfaffenbichler eine Hommage an das Kino und lädt klassische Filmformen mit der Energie politischer Kämpfe der Gegenwart auf. Ganz im Sinne Foucaults, der einmal schrieb: „Die Kritik durch Richtspruch langweilt mich; ich möchte eine Kritik mit Funken der Fantasie. Sie wäre nicht souverän, noch in roter Robe. Sie wäre geladen mit den Blitzen aller Gewitter des Denkbaren.“

Bereits angekündigt haben wir unsere Zusammenarbeit mit den Regisseur*innen Želimir Žilnik und Ute Adamczewski für ein gemeinsam kuratiertes Programm. Die Wahl fiel auf zwei Filme, die bei der Woche der Kritik in einen neuen Zusammenhang treten, frei kuratiert ohne Premierenzwänge und Aktualitätsgebote: Der kurze Experimentalfilm Triple-Chaser entstand in Zusammenarbeit des Recherche-Kollektivs Forensic Architecture mit Laura Poitras’ Produktionsfirma Praxis Films und stellt einen Teil einer weiter gefassten politischen und juristischen Arbeit dar, in der die Kunst dennoch mehr ist als ein Mittel zum Zweck. 2019 forcierte die Gruppe durch ihre Arbeit im Rahmen der Whitney Biennal den Rücktritt von Warren B. Kanders, eines Vorstandsmitglieds des Whitney Museum of American Art. Wir diskutieren die Praxis der Gruppe im Verhältnis zu dem Spielfilm Rights of Man des spanischen Regisseurs Juan Rodrigáñez, der mit einer Performancegruppe, einem Zirkuszelt und fünfunddreißig 16-mm-Rollen komplett improvisiert arbeitete und sich mit dem Wesen der menschlichen Kreativität anlegte. Unter dem Titel The Proof is in the Pudding positionieren wir das Kino im Spannungsfeld von Fakt, Fiktion, Ethik und Geschmack, um herauszufinden, ob in der Kunst, im Aktivismus und im Leben tatsächlich Probieren über Studieren geht.

Das jazzige Programm Losing Transmission eröffnet schließlich eine Debatte darüber, nach welchen Maßstäben ästhetische Formen heute als politisch gelesen werden und ob eine analoge Filmpraxis in digitalen Zeiten automatisch widerständig ist. Ausgehend von den beiden Filmen The Dream and the Radio von Renaud Després-Larose und Ana Tapia Rousiouk sowie Notes for a Déjà Vu des Filmkollektivs Los Ingrávidos diskutieren wir, wie die Mittel des Kinos das Private ins Politische übersetzen und umgekehrt. Wir wollen herausfinden, ob scheinbar überholte Kulturtechniken wie das Radio heute bloß noch Nostalgie wecken, und ergründen das politische Potenzial von scheinbar apolitischen Haltungen und Handlungen wie der Melancholie und dem ziellosen Driften durch die Nacht.

Mitglieder des Programmteams

Die Woche der Kritik verfolgt bei der Besetzung der Auswahlkommission das Prinzip eines rotierenden Programmteams. Gemeinsam mit den Mitgliedern der kollektiven künstlerischen Leitung Dennis Vetter und Istvan Gyöngyösi und der Woche der Kritik Mitgründerin Dunja Bialas haben dieses Jahr die Filmkritiker*innen Lucía Salas und Victor Guimarães die Filmauswahl gestaltet. 

Lucía Salas ist eine argentinische Filmkritikerin, Programmgestalterin und Filmemacherin. Sie ist Mitherausgeberin des Filmmagazins La vida útil, Mitglied des Programmteams des Festivals Punto de Vista (Festival Internacional de Cine Documental de Navarra), Dozentin im Studiengang Curatorial Studies der Elías Querejeta Zine Eskola und arbeitet unter anderem mit den Plattformen Con Los Ojos Abiertos, Jugend ohne Film, Viennale, IFFR Critic’s Choice, DocumentaMadrid, DocLisboa und Margenes. Zusammen mit dem Kollektiv LaSiberia Cine führte sie bei dem nichtfiktionalen Film „Implantación“ (2016) und mehreren Kurzfilmen Regie. Sie studierte Bild- und Tondesign an der Universität von Buenos Aires, hat einen MA in Ästhetik und Politik von CalArts und ist derzeit Doktorandin im Communications-Studiengang der Abteilung CINEMA an der Universität Pompeu Fabra.

Victor Guimarães ist Filmkritiker sowie Programmgestalter und lebt in Belo Horizonte, Brasilien. Er schreibt regelmäßig für Cinética (Brasilien) und Con los ojos abiertos (Argentinien). Er hat mit internationalen Filmpublikationen wie Senses of Cinema, Desistfilm, La Furia Umana, Kinoscope, La Vida Útil und Cahiers du Cinéma zusammengearbeitet. Er war einer der künstlerischen Leiter des Belo Horizonte International Short Film Festival (2014), Mitglied des Auswahlkomitees bei forumdoc.bh (2012 bis 2015) und Programmgestalter beim Tiradentes Film Festival (2019). Derzeit arbeitet er als Programmierer für FICValdivia (Chile) und künstlerischer Leiter von FENDA – Experimental Festival of Film Arts. Er hat Retrospektiven und Sonderprogramme für Festivals wie 3 Continents (Frankreich) und Frontera Sur (Chile) kuratiert. Er promovierte in Kommunikations- und Filmwissenschaften an der UFMG, mit einem Aufenthalt an der Universität Paris III – Sorbonne Nouvelle.

 

Alle Programme im Überblick

 

Footage Fetish

CAPITU AND THE CHAPTER (CAPITU E O CAPÍTULO)
R: Júlio Bressane, BR 2021, 75 Min.

VENUS IN NYKES (VÊNUS DE NYKE)
R: André Antônio, BR 2021, 41 Min.

 

Tripping

DETOURS (OBKHODNIYE PUTI)
R: Ekaterina Selenkina, RU/NL 2021, 73 Min.

NOSFERASTA: FIRST BITE
R: Adam Khalil & Bayley Sweitzer with Oba, US 2021, 33 Min.

 

Losing Transmission

NOTES FOR A DÉJA VU
R: Colectivo Los Ingrávidos, MX 2021, 22 Min.

THE DREAM AND THE RADIO (LE RÊVE ET LA RADIO)
R: Renaud Després-Larose, Ana Tapia Rousiouk, CA 2022, 135 Min.

 

Libertine

THE STONEBREAKERS (LAS PICAPEDRERAS)
R: Azul Aizenberg, AR 2021, 16 Min.

FRIDAY NIGHT STAND
R: Jan Soldat, DE/AT 2021, 11 Min.

INU-OH
R: Masaaki Yuasa, JP/CN 2021, 98 Min.

 

Streitgespräch / Critics’ Debate

EDOUARD AND CHARLES (VAS-TU RENONCER ?)
R: Pascale Bodet, FR 2021, 72 Min.

2551.01
R: Norbert Pfaffenbichler, AT 2021, 65 Min.

 

The Proof is in the Pudding 

RIGHTS OF MAN (DERECHOS DEL HOMBRE)
R: Juan Rodrigáñez, ES 2018, 76 Min.

TRIPLE-CHASER
R: Forensic Architecture, Praxis Films, GB/US 2019, 10 Min.

 

Mythunderstanding

LOVE IS A DOG FROM HELL (ASONG IMPIYERNO ANG PAG-IBIG)
R: Khavn de la Cruz, PH/DE 2021, 92 Min.

SYCORAX
R: Lois Patiño, Matías Piñeiro, ES/PT 2021, 20 Min.