Das Mädchen und das Autofahren
Das Mädchen und das Autofahren
(ein Filmband)
von Caca Savić
Nachmittags biegen sie auf die schnurgerade Straße. Die gehört dem Betrieb und liegt als hundert Meter lange Spiegelachse zwischen zwei gleichgroßen und gleichbestellten Feldern. Sie gehören auch dem Betrieb und tragen eine karge Wiese, denn es werden hier keine Pflanzen, es wird Stahl verarbeitet.
Sie fahren bis zum großen Parkplatz vor der Werkshalle. Neben ihr sitzt die Tante mit einem dicken Rock über den breiten Knien, in durchsichtigen Strümpfen, mit Stiefeln über den Waden und mit einer großen Brille auf der Nase. Das Mädchen klettert für den letzten Abschnitt der Fahrt auf ihre Oberschenkel, der Rock reibt grau auf den Nylonstrümpfen, es wird eng zwischen Lenkrad und Oberkörper.
In einem Sommer am Meer. Ihr Körper verbindet das geteilte Bild: oben ist über dem Schwimmreifen, unten ist unter dem Schwimmreifen. Er bildet die Mitte, füllt oben die Sicht mit Blau aus den Bildern, und unten mit tiefem Grün, das eine angenommene Anrede in einen Namen verwandelt. Die Tante will, dass sie den Reifen loslässt und heraustaucht, am besten abtaucht. Aber sie treibt weiter auf der obersten Salzschicht, wird selbst zum Kristall, breitet Spitzen aus, sieht den Seestern und seinen Knick im Zacken.
Meter um Meter rückt das Gebäude näher und wird trotzdem nicht höher. Die Halle liegt da wie schmelzendes Zitronensorbet. Sie ahnt eine Tiefe.
Das Auto bleibt in einer zarten Kurve auf dem Betriebsparkplatz stehen. Ab sechzehn Uhr marschieren Männer in Gruppen aus dem Sorbet. Sie stecken heftgroße Karten in Kästen am Portierhäuschen und verteilen sich dann in die verschiedenen wartenden Autos. Viele Menschen in großer Stille. Keine Begeisterung, keine Aufregung. Die Erschöpfung im Gleichschritt.
Die Frauen fahren die stillen Körper nach Hause, bringen sie von dem Auslieferparkplatz in die Wohnzimmer, an die Esstische, in die Betten.
Ihre Körpermaße in Metern sind kleiner als die Maße der gewölbten Scheibe. Ihr Körper passt auf die Fläche und ihr Blick kann viele Tausendmale durch die Brechung nach draußen fliegen. Ihr gebrochener Blick auf die Straße, die Gebäude, die Körper und die Kleidung, nimmt eine Form in ihrem Erleben an. Sie zählt noch keine Erinnerungen. Aber mit ihren Fingerkuppen zeichnet sie Wege der Bildführung nach.
Hinter der gewölbten Scheibe sitzt sie wie ein kleines Licht und wirft die Kegel als Bojen aus.
Auf dem kleinen Holzbrett haftet der Geruch von Zwiebeln. Sie läuft den Hang hinunter, über große Betonplatten, dabei immer einen Blick nach rechts auf die Erdbeeren. Auch diesen Sommer wird sie davon keine essen dürfen. Die Vermieterin möchte rote Kugeln rollen und Kinder von der anderen Straßenseite beschenken. Das muss das Mädchen verstehen, es läuft weiter. Im unteren Teil des Gartens hockt der Mann der Tante. Er hält sein Lieblingsmesser in der Rechten und schneidet in sich gekehrt Speck. Die Würfel sind regelmäßig, es dauert. Dann schneidet er Zwiebel. Gröber, in Achtel. Über die streut er Salz und wartet, bis sich unter den Zwiebelstücken Schmelzlachen bilden.
Ungefähr zwanzig Meter bis zu dem Haus mit der Treppe im Dunkeln. Sie weiß nicht, wie weit zwanzig Meter sind. Ihre Füße gehen schnell, der Korb ist leer und trotzdem schwer. Nach dem Haus mit der Treppe kommt das Krankenhaus auf der anderen Seite der Straße. Dort ist gerade ihre arbeitende Mutter, aber sie muss jetzt schnell weiter, entlang der meterhohen Plakatwand. An der Ecke biegt sie ab, geht weiter entlang der Plakate. Sie sieht die erste Stufe zum Bäcker. Morgens bekommt sie hier einen Schokoladetrost vor dem Kindergarten. Jetzt die kleine Packung Milch für die ganz kleinen Kinder. Die Tante ist hier bekannt und dem Mädchen wird die Packung in den schweren Korb gelegt. Jetzt den ganzen Weg wieder zurück. Schnell, damit das Kind essen kann. Ob ihre Mutter weiß, dass sie am Krankenhaus vorbeigeht?
Auf den Hügel läuft sie mit hängender Zunge als Königin. Stapft, hechelt und lächelt die Krone wie befehlend an. Will ihr zurufen: siehst du mich kommen? Zwischen den Kastanienbäumen will sie nicht sein. Sie zeigt auf die fünfstrahlige Symmetrie, die ihr hier ein Dach sein wird. Das Obere ihres Hauptes in strahlendem Spitz. Endlich wechseln Früchte zu Dolden und die Tante lässt das Mädchen dort in Ruhe stehen.
Diesmal sitzt sie weiter weg von der gewölbten Scheibe und muss zwischen den Sitzen durchschauen. Die Bäume stürzen auf sie nieder, die Straßen steigen auf.
Die hintere gewölbte Scheibe läuft rückwärts. Das Bild entfernt sich vom Mädchen und ihr Blick verkehrt ihre Erinnerung. Wenn sie sich schnell umdreht, dann erwischt sie die Bäume, wenn sie auf sie Straße stürzen. Sie haben das Mädchen verfehlt und treffen irgendwo hinter der passierten Kurve nur den Boden. Die Tante spricht laut dazwischen und will, dass der Körper stillhält. Dem Mädchen wird ganz schlecht und es beißt die Zähne fest zusammen. Das Straßengeröll knirscht und ihr Mund vereist.
Im Sprung ziehen ihre Füße wie Gewichte an ihr und bleiben am Balken hängen, den sie in einem Satz nehmen wollte. Die Schuhe sind ihr viel zu schwer. Rot und breit umfassen sie ihre Füße und speien Lavabrocken. Feuerball um Feuerball werden die anderen um sie herum verjagt und sie bleibt allein mit dem Balken.
Auf der Rückfahrt liegt die schnurgerade Straße im Dämmerlicht. Die Dunkelheit kommt schnell, wenn man ihr den Rücken zuwendet. Das Lenkrad musste sie wieder der Tante überlassen, aber einmal hupen, Signal geben, das durfte sie noch. Um den anderen Autos die Richtung zu weisen?
Für den heutigen Tag schließt sie ihren Blick auf das schmelzende Sorbet. Sie dreht sich um, sieht es formlos in der Ferne. Die Straße teilt nochmal die Felder und wird am Ende eng.
Caca Savić ist österreichische Lyrikerin. Sie studierte in Wien und lebt seit 2005 in Berlin. 2020 erschien ihr Gedichtband Teilchenland im Verlagshaus Berlin, für den sie das H. C. Artmann-Stipendium des Landes Salzburg gewann. Ihre Texte erscheinen auch in Zeitschriften und Anthologien, zuletzt in Und ich –, Maria-Christina Piwowarski (Hg.), park x ullstein, Berlin, 2024. Caca Savić ist Teil des Redaktionskollektivs der Zeitschrift PS: Anmerkungen zum Literaturbetrieb / Politisch schreiben.