Ein Junge, klein
Ein Junge, klein
von Irina Nekrasov/a
Ein Junge, klein, sagt mit verstellter Stimme, tiefer gestellt: „Heute ist der Erste Tag vom Rest deines Lebens.“ Dann schaut er links und rechts, wartet auf Applaus, bekommt ihn nicht und macht stattdessen: „Höhöhö.“
Aber klein? Fangen wir davor an, denn als er das sagt, da ist er schon 14 Jahre alt. American Beauty wurde erst 2006 als DVD in Deutschland verkauft.
Also nochmal: Ein Junge, klein, sagt mit verstellter Stimme, tiefer gestellt:
„Ich will Wasser. Und Zucker. Mehr. Meeeeeeehr!“
Er wechselt die Rolle, die Stimme des Jungen, klein, sagt verstellt, höher gestellt, aber schlaff: „Schatz, was ist denn mit deinem Gesicht los?“
Er greift in sein Gesicht, zerrt an seinem Kinn und ruft: „So besser?!“. Er lacht und klatscht drei Mal auf seinen Oberschenkel.
Seine Lieblingsfilme: Gladiator, Titanic, Der Dummschwätzer, Die Maske, Con Air. Men in Black. Die hat er auf Kassette. Seine Lieblingsserien: Alle, weil die laufen im Fernsehen.
Er kommt nach Hause und wartet, bis seine Mutter zu ihrem zweiten Job fährt. Vorher rührt er den Fernseher nicht an. Schnell was essen, schnell die Küche aufräumen. Hinsetzen, in den Schulsachen blättern. Dann ist es 14.15. Sie fährt los. Er rennt, Fernseher an.
Richterin Barbara Salesch, Prince von Bel-Air, Eine himmlische Familie, Arabella, Gilmore Girls, Pokémon, Dragon Ball, Dragon Ball Z. Ein Durcheinander, ein Durcheinander. Natürlich nicht alles an einem Nachmittag – so viel Zeit ist gar nicht! Natürlich nicht alles im gleichen Jahr! Arabella setzten sie 2004 ab! Er kennt die meisten Folgen schon. Während der Werbung rennt er in die Küche: Honey Pops mit Milch und Vanilleeis in eine große Schüssel schaufeln. Zurück auf den Teppich, immer sitzt er auf dem Teppich, nie auf dem Sofa. Sein Blick ist hypnotisiert vom Fernseher, als hätte Jaffar höchstpersönlich seinen Zauberstock gegen ihn gewandt; sein Körper aber, der kleine, ist halb zur Tür gedreht, hinter der Wohnzimmertür die Wohnungstür, freier Blick, immer sprungbereit. Denn wenn die Eltern zurückkommen, dann wird der Fernseher ausgemacht, die Fernbedienung zurückgelegt, die Laufspuren auf dem Teppich geglättet, die Schüssel abgespült, ins Zimmer gerannt: in die Schulaufgaben gucken und bangen, bangen, dass der Fernseher schon abgekühlt ist, bevor die Eltern ihre Hand drauf legen.
Der Junge, klein, steht vor dem Fernseher, die Hände rappen, den Kopf zieht er nach vorn und nach hinten, die Knie wippen und er versucht zu sagen: „Now, this is a story all about how my life got flipped-turned upside down“, aber er kann kein Englisch, also rappt er in Fantasiesprache. Er hebt die Hände von sich weg und wippt mit den Knien, he’s the Prince of Bel-Air. Die Eltern scherzen immer: „Der Fernseher hat dem Jungen Deutsch beigebracht.“
MTV weckt den Traum zum Breaking, also rollt er über den Teppich und übt Kopfstände, Will Smith den Traum vom Basketball, Gilmore Girls den Traum von Junkfood und Eltern, die wie Freunde sind. Sein Cousin weckt dann den größten aller Träume. Sie sitzen im Kinderzimmer vom Cousin, der auch nicht groß ist, aber schon ein bisschen größer. Im Wohnzimmer sind die ausgezogenen Tische voll mit Essen, voll mit Schnaps, die Erwachsenen wollen ausgelassen sein, also werden die Kinder satt ins Kinderzimmer gescheucht. Die größeren Kinder passen auf die Kleinen auf, indem sie ihnen Horrorfilme und Pornoclips zeigen. Der Cousin hat einen eigenen Computer. Deswegen bisschen angeben mit Worms, Mohrhuhn Shooter und RollerCoaster Tycoon. Die Kleineren dürfen nur zugucken, wie der Cousin pinke Würmer in einer Unterwasserwelt bewaffnet. Manchmal lässt er den Wurm zu den anderen kriechen, gibt den Befehl „Kamikaze“, und wenn der Wurm sich in die Luft sprengt, dann lachen alle, klatschen alle und rufen: „Kamikaze!“. Dann, als die Allerkleinsten eingeschlafen sind, erzählt der Cousin von Junge zu Junge: „Wusstest du, dass man in Amerika einfach entdeckt werden kann? Die ganzen Filmemacher laufen da rum und wenn denen ein Kellner gefällt, dann nehmen sie ihn für ihre Hauptrollen! Einfach so. Die sprechen die einfach auf der Straße an. Und Boom bist du ein Filmstar. Millionär!“
Unser Junge schaut noch skeptisch, da ruft der Cousin: „Ich schwöre, ein Typ von Star Wars war der Tischler vom Regisseur! Tischler!“
Nach diesem Abend gab es kein Zurück. Nun saß er nicht mehr mit Honey Pops und Milch vor der Tür, sondern mit Papier und Stift. Er schrieb auf: „Mein Name ist Maximus Decimus Meridius / Kommandeur der Truppen des Nordens / Tribun der spanischen Legionen / treuer Diener des wahren Imperators Marcus Aurelius / Vater eines ermordeten Sohnes / Ehemann einer ermordeten Frau / und ich werde mich dafür rächen, in diesem Leben oder im nächsten!”
Er spulte zurück, er ließ laufen, drückte auf Pause, schrieb ein paar Worte auf, dann spulte er wieder zurück.
Dann stellte er sich in die Mitte des Raums. Schaute auf den Boden. Stellte sich in die Mitte des Teppichs. Der Teppich war nicht mehr blau, er war sandfarben, wie der Boden im Kollosseum. Er ballte die Fäuste. Verzog sein Gesicht. Probierte schmerzverzogen aus, probierte angstverzogen aus, probierte Trotz aus. Er versuchte Schmerz, Trotz und Würde zu mischen. Er schaute langsam auf und sagte: „Mein Name ist Maximus Decimus Meridius“.
Vorbereitung war alles, er wollte vorbereitet sein auf den Moment, in dem er entdeckt wird. Er stellte sich vor: ein Filmemacher läuft über den Marktplatz, während er am Springbrunnen sitzt und ein Erdbeereis isst. Es ist ein kleiner Springbrunnen, nicht zu pompös, er wäre unübersehbar. Der Filmemacher bleibt stehen und sagt: „Wow! Dein Gesicht! Genau dich suche ich für meinen neuen Film. Zeig mal, was du drauf hast!“ Und der Junge würde sein Eis auf den Boden schmeißen, den Kopf zurückwerfen, mit den Fäusten neben seinem Gesicht ausschlagen, als wären es Hufen eines Pferdes, er würde rufen „Aaaaaah!“ Und dann, mit erhobenem Zeigefinger und ohne Luft zu holen: „Er ist ein pedantischer, neunmalkluger, angeberischer Bastard! Ein verkackter Stinkstiefel, ein mieser dampfender Haufen Kuhscheiße!“, dann ausatmend, die Hand flach neben dem Gesicht: „Bildlich gesprochen.“ Der Filmemacher wüsste natürlich, dass er hier einen Jim Carrey vor sich hat.
In der Schule träumte er davon, wie er im Supermarkt entdeckt würde, wenn er mit seiner Mutter den Einkaufswagen durch den Penny schob. Auf dem Schulhof spielte er seinen zwei Freunden eine Szene nach der anderen vor und erklärte ihnen, wie er es zum Film schaffen würde. Er merkte gar nicht mehr, dass seine Freunde immer nur ganz still waren, dass er durchredete und redete, jede Pause durch, dass er die Augen aufriss und wild mit den Händen fuchtelte. Er merkte es nicht und deswegen verstand er auch nicht, warum die Freunde irgendwann nicht mehr am gemeinsamen Treffpunkt standen.
Und merkten es die Eltern, dass ihr Sohn immer woanders war, aber nie bei ihnen zu Hause? Sie merkten, dass seine Noten schlechter wurden, aber die waren schon immer schlecht. Nur bei den Mathehausaufgaben konnte der Vater helfen, und auch die erklärte er immer anders, als der Sohn es in der Schule gelernt hatte. Der Vater schimpfte, er verstand nicht, wieso man an deutschen Schulen anders dividierte. „So ein Blödsinn!“, rief er und bestand darauf, dass der Sohn es richtig von ihm lerne. Die Zahlen fingen an, durch die neuen Rechenarten noch mehr vor seinen Augen zu tanzen, und wenn der Vater wütend wurde, da dachte der Sohn an sein Erdbeereis und an Jim Carrey, er ließ den Kopf hängen, aber er war nicht mehr der Junge, der angeschrieen wird, sondern der Mann, der darauf wartete, den Kopf zu heben und zu sagen „Mein Name ist Maximus Decimus Meridius“.
Im den Sommerferien ging er arbeiten und kaufte sich einen DVD-Player. Er kaufte sich DVDs. Er kaufte sie alle. Er schaute sich die Booklets ganz genau an. Er sammelte zuerst nach Schauspieler. Dann nach Regisseur. Suchte im Laden nach Special Editions. Kein Prince von Bel-Air mehr, keine Barbara Salesch. Kein Dummschwätzer, kein Gladiator. Jetzt hatte er die Großen, die Wichtigen vor sich. Er schaute Der Pate. Er schaute Taxi Driver. Er lernte neuen Text. Er schaute American Beauty und sagte in verschiedenen Rollen: „Und Janie, wie war die Schule?“ „Ganz ok“ „Nur ok?“ „Nein Dad, es war spek-ta-ku-lär!“. Er verfing sich in der Mimik von Lester Burnham. Er stand vor dem Spiegel und sagte immer wieder: „Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens“, bis auch seine Wangen schlaff wurden. Er identifizierte sich mit einem mittelalten Mittelschichtsmann, dem die Sicherheit seines weißen Vorstadtlebens als Monotonie auf den Magen schlägt und der sich in übergriffigen Sexträumen mit einer 16-Jährigen verliert. Das sexuell frustrierte Suburbia wurde zu seiner Lieblingskulisse.
Der Junge wurde größer und sprach doch nur über Filme. Einmal hörte ein Mädchen ihm etwas länger zu und wurde damit seine Auserwählte. Lester Burnham, der er war, baute er einen kleinen Altar mit ihrem Foto auf, legte rote Rosenblätter um den Rahmen. Seine Mutter runzelte die Stirn, aber was wusste sie schon davon, wie man in Deutschland datet? Sie selbst kam aus einer Welt, in der man schon zu Schulzeiten Heiratsanträge bekam und deren Liebesidole die Helden in Kriegsfilmen waren. Er interessiert sich für Mädchen, dachte sie sich, endlich kommt er wieder in der echten Welt an. Nicht mehr nur Filme gucken. Aber vor allem während der Nachtschichten grübelte sie. Übermüdung macht die Sorgen größer. Was sollte aus dem Sohn werden? Die Noten waren schlecht, meistens sperrte er sich in sein Zimmer ein und schaute DVDs. Früher hatte er manchmal ein bisschen zu viel Fernsehen geguckt, aber das konnte man noch kontrollieren, schließlich war der Fernseher dann warm. Jetzt verlor sie den Überblick. Also folgten Konsequenzen.
Die ganzen Herbstferien über durfte der Junge nicht mehr fernsehen. Der Vater hatte alle Verbindungskabel versteckt. Bewerbungen schreiben. Ausbildung suchen. Erst wenn er mindestens 10 Bewerbungen verschickt hat, darf er wieder. Der Junge wurde nervös. Seine Eltern arbeiteten jeden Tag, auch am Wochenende. Er konnte sich nicht an einen Tag in seinem Leben erinnern, an dem er nichts geguckt hätte. Aber er schrieb die Bewerbungen. Er schrieb und schrieb, druckte sie aus, klebte ein Foto auf, heftete sie in eine Bewerbungsmappe, schickte eine nach der anderen ab. Er bewarb sich als Koch, als Mechatroniker, als Einzelhandelskaufmann, als Erzieher.
Dann die Ausbildung. Sein Sitznachbar mag auch Filme, aber anders als er. Er sagt zu ihm: „Bist du sicher, dass du Schauspieler werden willst? Das ist doch langweilig. Du erzählst dann immer nur die Geschichten der anderen! Ich werde Drehbuchautor!“. Im Kopf des Jungens dreht sich alles. Er fängt an, die Making-Ofs auf seinen DVDs zu schauen. Die Credits zu lesen. Was ist ein Produzent? Was genau macht ein Regisseur? Wer schreibt die Drehbücher? Er kauft sich Syd Fields „Das Drehbuch“ und malt Dreiecke. Er sucht überall die Dreiecke, die Höhepunkte, die Konfrontationen. Aber er liest es nicht zu Ende. Er kauft sich keine Kamera. Er schaut nicht nach Filmhochschulen. Er tut es nicht. Dann wird er älter. Wenn er mit seinem Freund aus der Ausbildung trinken geht, dann ruft der: „Los, mach nochmal Brad Pitt in Twelve Monkeys nach!“, und dann steht er auf und joggt durch die Kneipe. Er fragt sich, wieso ihn niemand entdeckt und wünscht sich, nach Amerika zu gehen. Amerika. Kein Wunder, dass aus allem nichts geworden ist – bis jetzt. Er ist ja schließlich nicht Einzelhandelskaufmann in Hollywood. Dann irgendwann, er sitzt auf einem Date, das seine Mutter ihm aufgeschwatzt hat, schaut die Frau ihn mit großen Augen an und sagt: „So ein Quatsch, der Schauspieler von Star Wars, der vorher Tischler war, ist Harisson Ford. Und es stimmt eben nicht, er war nicht einfach zufällig der Tischler von George Lucas. Er hat schon längst in Hollywood gelebt und ist von Vorsprechen zu Vorsprechen gegangen. Er hatte schon mega viele Nebenrollen gespielt. Er hat nur dann auch noch als Tischler gearbeitet, weil er seine Familie durchbringen musste. Der kannte doch schon Leute in der Filmwelt. Kein Mensch wird einfach so entdeckt, der nicht schon längst Connections hat!“
Irina Nekrasov/a, geboren 1993 in Tscheljabinsk, ist Leipziger Autor*in und Kulturwissenschaftler*in. Seit 2018 ist Irina Mitglied des Kollektivs PMS Postmigrantische Störung. 2022 gewann Irina den WORTMELDUNGEN Förderpreis. Veröffentlicht hat Irina u.a. bei Herz & Habitus, Solidarisch gegen Klassismus und in der Literaturzeitschrift die horen.