Emotionen in polarisierten Klassengesellschaften – Scham und Stolz als narrative Marker affektiver Macht
Emotionen in polarisierten Klassengesellschaften – Scham und Stolz als narrative Marker affektiver Macht
von Barbara Wolfram & Bianca Jasmina Rauch
Über die letzten Jahre haben weltweit rechtspopulistische und neo-faschistische Politiker*innen steigenden Zuspruch erhalten und gewinnen immer häufiger demokratische Wahlen. Gesellschaften sind so polarisiert und ungleich wie lange nicht mehr und die Elite entfernt sich immer mehr vom Rest der Bevölkerung. Der Diskurs um soziale Klassen und Ungleichheit wird stetig virulenter. Filmisch spiegelt sich dies vielfach in satirischen Erzählungen um Superreiche wider, während differenzierte Blicke auf die (Un-)Möglichkeiten sozialer Mobilität und deren regionale Unterschiede eher die Ausnahme bilden.
Denken wir an Klassenmobilität im US-Kino, dann drängt sich eine Vielzahl von Bildern des American Dreams auf, Narrative vom individuellen, meritokratischen Aufstieg und Erfolg. Ein Erfolg, der denjenigen garantiert scheint, die hart und motiviert genug arbeiten − das Versprechen, dass es den Kindern „besser“ als den Eltern gehen wird, wenn sie sich genügend anstrengen, sich nützlich für die Gesellschaft machen, ehrlich arbeiten, ihren Platz im sozialen Gefüge kennen und die „Regeln“ befolgen. In diesem Traum, dieser Hoffnung spielt es keine Rolle, in welche Familie die Person zufällig hineingeboren wurde. Sie kann es aus eigener Kraft „schaffen“, wobei „schaffen“ immer die kapitalistische Vorstellung des Anhäufens von Kapital meint. Nachhaltigkeit, Ressourcenschonung, demokratische und solidarische Gemeinschaftsgefühle und Gesundheitsvorsorge haben in der Realisierung dieser Vorstellung kaum Platz. Was wie ein kollektiver Traum wirkt, ist letztlich aufs Individuum ausgerichtet und somit nicht mit einer Sehnsucht nach demokratischen Idealen oder Emotionen die in der Gemeinschaft erfahren werden, verknüpft – ähnlich wie die klassische den Erfolgen einzelner Figuren entgegenfiebert.
Das Kino bedient sich von Beginn an emotionaler Skripte des Aufstiegs – mit hoffnungsfrohem oder auch kritischem Subtext erzählt. Das hat schon mit Rags-to-Riches-Stories in der Stummfilmära wie „The Extra Girl“ (1923) begonnen, geht über „Citizen Kane“ (1941), „Mildred Pierce“ (1945) oder „Norma Rae“ (1979) und zieht sich bis heute durch, etwa mit „Nomadland“ (2020) oder A24-Hits wie „Minari“ (2021) oder „Past Lives“ (2023). Auch wenn die Protagonist*innen auf dem Weg zum American Dream immer wieder vor Herausforderungen stehen, wird das Ziel eines erfolgreichen Lebens letztlich selten infrage und in größere, strukturelle Zusammenhänge gestellt. Welche emotionalen Skripte liegen also diesen Filmen und den großen Narrativen vom gelungenen Leben, derer sich auch politische Akteur*innen gerne bedienen, zugrunde?
Die Soziologin und Ethnologin Arlie Hochschild widmet sich in ihrer Arbeit (etwa in „Stolen Pride“, 2024, und „Strangers in Their Own Land“, 2016) der sozialen Spaltung in der US-amerikanischen Gesellschaft und bietet Überlegungen hinsichtlich der Verbindungslinien zur Rolle von Filmen/Serien an. Sie fokussiert rurale und urbane soziale wie wirtschaftliche Klassenunterschiede und forscht nach Antworten auf eine fortschreitende Entdemokratisierung. Im Durchschnitt haben Bewohner*innen peripherer, ruraler Regionen einen geringeren Bildungsabschluss, ein niedrigeres Einkommen und weniger Hoffnung auf eine Zukunft, in der sie als anerkannte Mitglieder der Gesellschaft eine stabile Existenz aufgebaut und gesichert haben. Das „Wohin“ ihrer Reise vernebelt sich und verliert sich in einer Ferne, die nicht mehr erreichbar scheint.
Gekonnt instrumentalisieren rechtspopulistische Politiker*innen die Unsicherheit und Angst, keinen Platz in der Zukunft zu haben, für ihre neofaschistischen Ideen. Sie bieten vereinfachte oder schlicht falsche Lösungsvorschläge für soziale Probleme an. Diese Vorschläge verfolgen vor allem anti-migrantische Politiken. Der Blick auf die Probleme, die wirklich drängen – schlechte Sozial- und Krankenversicherungen, viel zu geringe Pensionen, massiv steigende Wohn- und Lebenskosten bei stagnierenden Löhnen und sozialen Unterstützungsleistungen – wird immer verschwommener und damit unbearbeitbar gemacht. Hochschild betrachtet im Licht dieser Situation emotionale Prozesse, die verborgen unter den großen kapitalistischen Erzählungen der Gegenwart liegen: die „deep story“ – eine “feel-as-if-story”, eine Art, wie wir die Welt über Emotionen verstehen können. Sie legt uns vor, wie sich Dinge anfühlen, und nicht, wie sie faktisch sind – hier lässt sich eine Brücke zu filmischen Narrativen schlagen.
Hochschild widmet sich in ihren Analysen vor allem den Affekten Stolz und Scham: Machtvollen Emotionen, die soziale Klassen formieren und Menschen an ihrem „Platz“ halten sollen. Es sind Gefühle, die durch andere Menschen ausgelöst werden. Stolz zu empfinden, hat meistens damit zu tun, dass sich eine größere Gruppe von Menschen über die Anerkennung bestimmter Errungenschaften geeinigt hat. Eine Ausbildung abschließen, einen gewissen Geldbetrag verdienen, eine gewisse Körperform haben, bestimmten Konzepten von Partner*innenschaften folgen. Hochschild definiert Stolz als „being of use“: nützlich sein für die Familie, für die Gesellschaft, für einen größeren Zusammenschluss an Menschen und ihre Ideen des Zusammenlebens. Es ist etwas, was erreicht werden kann, wofür aber ein gewisser Einsatz notwendig ist. Groteskerweise zählt das Hineingeboren-Werden auch in diese Kategorie. Wobei hierfür keinerlei Einsatz notwendig ist. Es passiert einfach. Es lässt sich aber entsprechend einfach und gut fürs Gegenteil instrumentalisieren, um Klassenhierarchien aufrechtzuerhalten. Dabei spielt die Anbindung an rurale und urbane Räume eine wesentliche Rolle für die Chancen auf einen individuellen Erfolg. Die Menschen, die in “absteigenden”, peripheren und meist ländlichen Regionen leben, werden sozialwissenschaftlich als „Modernisierungsverlierer*innen“ bezeichnet. Der Stolz auf eine Identität wurde für Menschen von “flyover countries” durch Scham für ihre Herkunft ersetzt, gefüllt mit Passivität, Depression, Verlust und Trauer. Welche Rolle spielen Stolz und Scham in filmischen Narrativen?
In der US-Produktion „Minari“ (2021) etwa werden Stolz und die Vorbildfunktion für die eigenen Kinder wesentlich für die Lebensentscheidungen des Protagonisten, während der Film parallel den ruralen Raum in nostalgische, Stolz generierende Bilder des American Dream hüllt. In einer zentralen Konfrontation zwischen Jacob, dem Vater einer in den 1980ern aus Südkorea emigrierten Kleinfamilie, und seiner Frau Monica, macht Jacob klar, dass es für ihn essenziell ist, in den Augen seiner Kinder als erfolgreicher Mann dazustehen. Die beiden sitzen im Warteraum vor dem Spitalszimmer, in dem der 9-jährige Sohn wegen eines Herzfehlers behandelt wird. Monica möchte aufgrund der besseren medizinischen Versorgung wieder zurück nach Kalifornien, während Jacob darauf besteht, in Arkansas auf ihrer Farm zu bleiben, um seinen Traum weiter zu verfolgen. Der Film macht hier einen Rekurs auf eine frühere Szene zwischen Jacob und seinem Sohn, der ihn zur Arbeit begleitet hat. „Ähnlich zu den männlichen Küken, die in der Firma zum Schlachten aussortiert werden, weil sie unnütz sind und keine Eier legen, müssen auch männliche Menschen nützlich sein für die Familie, sonst haben sie keinen Wert für die Gemeinschaft“, proklamiert Jacob eindringlich, während er rauchend vor seinem Sohn kniet. Erfolg wird in diesem Männlichkeitsangebot ausschließlich als beruflicher verstanden; der Erfolg von Sorgearbeit und die Möglichkeit, darüber Stolz zu generieren, ist ausgeschlossen. Vehement hält Monica in einer weiteren Streitszene gegen diese Vorstellung an. Sie entwirft mit der Frage „Ist es nicht wichtiger, dass wir zusammenbleiben?“ eine andere, auf die Gemeinschaft gerichtete Vorstellung von erfolgreichen Lebensmodellen.
Die beiden beschließen vorerst, sich zu trennen. Damit machen sich genau diese Pole im Mikrokosmos der Familie bemerkbar: individuelle (männliche) Aussicht auf Erfolg und Anerkennung von außen – oder Zusammenhalt, für den die soziale Macht der Scham und des Stolzes zweitrangig sind. Beides scheint nicht vereinbar. In „Minari“ bilden urbaner und ruraler Raum diese beiden Pole von Zukunftsperspektiven. Regisseur und Autor Lee Isaac Chung inszeniert das „Mitten im Nirgendwo“ als Möglichkeitsraum, als Potenzial für den risikofreudigen Unternehmer und Träumer. Regelmäßig sind mit sanft emotionalisierender Musik unterlegte Aufnahmen der bestellten Felder und wilden Wiesen, des weiten Himmels und des Flusses hinter dem kleinen Mobilhaus der Familie als Orte des nostalgischen Stolzes auf das Land, das mit den eigenen Händen bewirtschaftet wird, zu sehen. Inspiriert von Willa Cathers Roman „My Ántonia“, der von US-Pionier*innen während des 19. Jahrhunderts handelt, knüpft Chung an ein Narrativ an, das sich mit den heutigen individuellen Möglichkeiten innerhalb ruraler Räume in den USA nicht mehr deckt. Die rührselig und optimistisch untermalte letzte Szene, in der Jacob und sein Sohn vor der titelgebenden gedeihenden Petersilie zu sehen sind, besetzt das Streben des Familienvaters letztlich als positiv und blendet die Zweifel von Monica aus.
Blicken wir nach Europa, können ähnlich polarisierende Entwicklungen attestiert werden, und visuelle Narrative von Erfolg, und damit Stolz und Scham, finden sich auch im europäischen Kino. Im deutschen Film „Alle reden übers Wetter“ (2022) von Annika Pinske begleiten wir die Bildungsaufsteigerin Clara bei ihrer Arbeit als Doktorandin an der Humboldt-Universität Berlin, um dann mit ihr und ihrer Tochter zurück nach Brandenburg zum Sechzigsten ihrer Mutter zu fahren. Pinske leuchtet die verschiedenen Aspekte von Klassenunterschieden aus und schafft es, differenziert auf diese zu blicken. Mit dem Setting des ruralen Raums realisiert der Film eigene narrative Strategien, um Solidarität und Gemeinschaft sowie kulturelle Praktiken, die Wert vermitteln, darzustellen.
In einer zentralen Szene von „Alle reden übers Wetter“ versucht die formal hochgebildete Clara das Kreuzworträtsel ihrer Mutter zu lösen. Sie scheitert an dem Rätsel, das ihre Mutter mit Leichtigkeit befüllt. Dabei wird ebenfalls sichtbar, dass zwischen den beiden Ausdrücke von Anerkennung fehlen. Auf die Frage, ob sich die Mutter denn für das interessiere, was Clara an der Universität macht, und ob sie stolz sei, antwortet die Mutter in knappen Sätzen, selbstverständlich sei sie stolz, aber es sei einfach zu kompliziert für „eine wie sie“, das alles zu verstehen. Die Szene ist zentral für die narrative Konstruktion von Wertigkeiten, weil sie verschiedene Formen des Wissens nicht unterschiedlich wertet und gleichzeitig die Komplexität von Transclasse-Erfahrungen einfühlsam aufzeigt. Clara erfüllt sich den meritokratischen Traum, sie verlässt ihr Herkunftsmilieu über den Bildungsweg, bleibt jedoch gleichzeitig eine Reisende zwischen den Klassen, wie die kurz davor stattfindende Feier zur Pensionierung eines Professors ihres Lehrstuhls klar macht. Auf dieser Feier gehört sie formal als Angestellte des Lehrstuhls selbstverständlich dazu, doch die unsichtbaren Codes und gewachsenen Netzwerke zwischen den anderen Teilnehmenden der Feier zeichnen sie als Neuankömmling in dieser sozialen Schicht aus. Ihr Student und Liebhaber ist überraschenderweise ebenfalls anwesend, da er der Sohn eines Professorenkollegen ist. Er ist in diese Bildungsschicht, ihre Netzwerke und Codes quasi hineingeboren, während sich die formal höher ausgebildete Clara die soziale Zugehörigkeit erarbeiten muss.
Eine Stärke von Pinskes Darstellung ist die Schlagfertigkeit, mit der sie ihre Protagonistin ausstattet, und die Fähigkeit, soziale Situationen als das zu erkennen, was sie sind – ausverhandelte Übereinkünfte zwischen Menschen, die ständig weiterverhandelt und dadurch herausgefordert werden können. Clara nimmt sich durch ihren Status der Klassenwechslerin die Freiheit, sich nicht an die ungeschriebenen Regeln zu halten. Mit Humor und Schlagfertigkeit − Eigenschaften, die auch aus ihrem Herkunftsmilieu kommen − fordert sie subversiv ein anscheinend starres Klassensystem heraus und stellt dieses bis zum Ende des Films in Frage. Damit lässt sie auch uns Zuschauende an den Versprechungen des neoliberalen Kapitalismus einer Chancengleichheit durch harte Arbeit zweifeln und fordert schrittweise die Zuschreibungen von Scham und Stolz in diesem Klassengefüge heraus. Wer sollte wofür Stolz empfinden? Wer wofür Scham?
Filme und Serien sind Teil der Kreation emotionaler Deep Stories und Sichtweisen auf soziale Gruppen, deren Machtverteilung durch die Wiederholung dieser Narrative mit aufrechterhalten werden. Die Widerständigkeit von Claras und Monicas Blick auf Klassenhierarchien und die ungleichen Formen, wie in einer Gesellschaft Wert in Form von Stolz vermittelt wird, bieten erzählerische Strategien des Aufbrechens von Klassendominanz an. Clara transportiert Humor und Schlagfertigkeit ihres Herkunftsmilieus in den Raum des Bildungsbürgertums und schafft dadurch subversive Zwischenräume, in denen soziale Wertigkeit neu verteilt werden kann. Monica besteht über zentrale Momente im Film auf der solidarischen Gemeinschaft, die ihre gemeinsame Familie und ihre geteilten Traditionen mit Jacob ausmachen. In beiden Filmen werden soziale Macht und Klassendominanz reflektiert und das Empfinden von Stolz zwischen Figuren und deren sozialen Herkünften gleichmäßig aufgeteilt. Durch ein solches Aufteilen affektiver Macht können Filme fruchtbare Strategien anbieten, unterschiedlichen Lebensrealitäten emotional nachzuspüren sowie Vorstellungen von einem erfolgreichem Leben zu reflektieren und in Bezug zur Realität zu setzen: eine Realität, in der Filmschaffende als Antwort auf neofaschistische Tendenzen und die Polarisierung sozialer Gruppen mit ihren Narrativen Verantwortung übernehmen können.
Barbara Wolfram ist Filmemacherin und Filmwissenschaftlerin an der Filmakademie Wien/mdw. Nach ihrer Promotion über filmische Repräsentation von Gender und Diversität im österreichischen Spielfilm widmet sie sich in ihren Postdoc-Projekten seit mehreren Jahren der Erforschung des Zusammenhangs von sozialer Klasse, Arbeitswelt, politischer Polarisierung und deren filmischer Darstellung. Diese Themen prägen auch ihre filmischen Arbeiten, in denen sie künstlerische und wissenschaftliche Ansätze gezielt miteinander verbindet. Ihr Ziel ist es, alternative Perspektiven aufzuzeigen und faire Repräsentationen zu schaffen. www.barbarawolfram.com.
Bianca Jasmina Rauch ist Filmwissenschaftlerin und freie Filmkritikerin. Sie hat an der Filmakademie Wien mit der Arbeit „Widerständige Blicke: „Weibliche“ Identitätssuche im Coming-of-Age-Film“ promoviert. Sie schreibt u.a. für das feministische Online-Filmmagazin Filmlöwin, ist Redaktionsmitglied von kolik.film und Jugend ohne Film. Seit 2025 ist sie Teil des Sichtungskomitees des Diagonale-Wettbewerbs. Kuratorisch tätig war sie zuletzt für das Filmarchiv Austria und die Female Tracks im Programmkino Wels.
Seit 2021 podcasten Bianca J. Rauch und Barbara Wolfram über divers-feministisches Filmlesen in ihrem Podcast Ned Wuascht – wir geh’n fisch’n. Ihre aktuelle Staffel widmet sich der Darstellung von Arbeit im Film. www.nedwuascht.com