Fernsehen durfte ich zuhause nicht
Fernsehen durfte ich zuhause nicht
von Sabine Scholl
Fernsehen durfte ich zuhause nicht. Also schlich ich in die winzige Wohnküche meiner Tante und schaute heimlich Western-, Herzschmerz- und Zeichentrickfilme. Nichts davon hatte mit der Welt draußen zu tun, der ich mich verweigerte. Vor dem großen Tor des Bauernhofs, wo wir wohnten, saßen sogenannte Sozialfälle und Außenseiter zusammen in der Sommersonne. Die sich als anständig verstehenden Dorfbewohner vermieden es, sich unserem Haus zu nähern.
Mitte der 1970er wurde im österreichischen TV Ein echter Wiener geht nicht unter mit der missgelaunten und dauerschimpfenden Figur des Proleten Mundl gesendet. Ich erinnere mich an die Aufregung der in rote Arbeitsmäntel gekleideten Verkäuferinnen des Kaufhauses, wo ich als Ferialkraft arbeitete. In der Kantine beklagten sie sich über die heruntergekommene Sprache, bestrebt, sich davon abzugrenzen. Das verachtenswerte Verhalten verorteten sie ausschließlich in Wien. So waren sie nicht; darauf bestanden die Frauen. Ich selbst wollte zwar nach Wien, aber eher, um die Meriten der Bürgerlichkeit zu erwerben. In Vorbereitung dazu las ich Weltliteratur und hörte klassische Musik. Ein einziges Mal saß ich als Schülerin mit meiner Mutter abends vorm Fernseher, um den Film Angst vor der Angst zu sehen. Den Regisseur namens Fassbinder kannte ich damals nicht, wunderte mich aber, warum Mutter mir erlaubte, dieser problematischen Handlung zu folgen. Heute weiß ich, dass sie sich mit der psychisch instabilen Protagonistin, einer Hausfrau wie sie, identifizierte und mir ohne Worte eine Botschaft sendete. Die ich nicht verstehen konnte, weil in unseren Kreisen keine Begriffe für Neurodiversität existierten.
Während des Studiums holte ich nach, was ich bis dahin an Filmen nicht sehen hatte können, denn an meinem Herkunftsort gab es kein Kino. Ich besuchte Wiener und Berliner Programmkinos, Filmarchive, Festivals mit Schwerpunkten zu Avantgardefilmen, Film Noir, Nouvelle Vague, Neorealismo, liebte die Originalversionen von Filmen, auch wenn ich die Sprachen nicht verstand, träumte davon, selbst Filmdrehbücher zu schreiben. Nichts davon jedoch hatte mit meiner Welt als junge Frau zu tun, die gegen den Widerstand der Eltern und der gesamten Familie ein Studium absolvieren wollte, sich ihren Unterhalt in Büros, Kaufhäusern, Gaststuben etc. verdienen musste. Meine Herkunft aus dem Arbeiter- und Bauernmilieu war nirgendwo abgebildet in diesen Fluchten. Es waren Träume, Modelle anderer Lebensformen. Aber die Erinnerung an mein Herkommen wollte ich sowieso nur loswerden. Daher suchte ich in Filmen auch nicht nach Szenen, die meinen Lebenswelten entsprachen. Und ehrlich − es gab kaum welche. Die Filme, die ich sah, zeigten mir, was ich noch erreichen musste. Vor allem waren sie von Männern gemacht und zeigten Männer in Hauptrollen.
Warum das so war, erfuhr ich erst durch die Bekanntschaft mit der Filmemacherin Valie Export. Ihren Film Unsichtbare Gegner von 1976 sah ich nicht im Kino, sondern im österreichischen Fernsehen, am kleinen Bildschirm im Wohnzimmer meines Elternhauses. Allein. Mutter war schon schlafen gegangen. Die Eindrücke dieses Werkes, das visuelle, erzählerische und darstellerische Konventionen durchbrach, habe ich nie vergessen können und wollen. Die Skandale, die er verursachte und die sich vor allem auf eine Szene konzentrierten, in der einem Kanarienvogel ein Küchenmesser angesetzt wird, konnte ich damals nicht nachvollziehen. Heute weiß ich, dass Künstlerinnen im katholischen Nachkriegsösterreich provozieren mussten, um die bis dahin völlig unreflektierte Zeit des Nationalsozialismus und seiner Mittäterschaft anzugreifen. Dafür ernteten sie Strafanzeigen und Hetzkampagnen, die bis zu persönlicher Bedrohung reichten. In Exports Filmen Menschenfrauen und Praxis der Liebe fand unsere feministische Germanistinnengruppe vertraute Female Troubles wieder. Wir diskutierten Möglichkeiten von Beziehungsformen, die sich von patriarchalen Vorgaben entfernen könnten, etablierten männerfreie Abende in Wohngemeinschaften und landeten dann doch wieder in Affären, in denen die Theorie der Praxis überlegen war. Export verfilmte später, da hatte ich sie bereits persönlich kennen lernen dürfen, außerdem Die Klavierspielerin von Elfriede Jelinek, bevor sie ihre Arbeit als Regisseurin nicht ganz freiwillig aufgab. Ich schrieb damals mit ihr an einem Treatment zu Unica Zürn. Für die Hauptrolle hatten wir bereits die Französin Sabine Azéma ausgewählt. Valie erzählte viel von der Männerlastigkeit des Filmbusiness, welche alle organisatorischen Strukturen durchzog: Produktion, Regie, Kamera waren traditionell in Männerhand, Assistenz, Skript und Schnitt waren Frauensache. Trat eine Filmemacherin wie Export in diesen Raum, wurde ihr von Anfang an nie so viel zugetraut wie männlichen Regisseuren. Wir sprachen über Backlashes im amerikanischen Kino der 80er Jahre, das agressive Frauen, wie in Fatal Attraction, als böse und das traditionelle Familienmodell bedrohende Personen darstellte. Das Zürn-Projekt, in dem eine psychisch instabile Künstlerin sich ihren Fantasien hingibt und ein Happy End ihrer Beziehung zu einem dominanten Künstlerkollegen nicht absehbar ist, scheiterte dann an der Finanzierung.
In einem Postgraduate-Projekt erforschte ich später die Anfänge des deutschen Films und erfuhr, dass Kino erst nicht als Kunstform, sondern als Jahrmarktsattraktion verstanden worden war, also nicht für eine gebildete Elite gedacht wurde, sondern als leichte Unterhaltung für Arbeiter und Kleinbürger. Auch die Filmleute kamen aus Randbereichen der Gesellschaft, Menschen, die im sozialen System der Zwischenkriegszeit keinen Ort und keine Aufgabe gefunden hatten. Dass ich nach darauffolgenden Jahren in den USA und Portugal, wo ich vor allem Dokumentarfilme von Manoel de Oliveira über die Arbeitswelt − wie O Pão oder Douro, welche von Walter Ruttmanns Berlin – Die Sinfonie der Großstadt inspiriert waren − lieben lernte, in einem Berliner Wohnhaus landete, wo das Kino auch erfunden worden war, kann man Zufall nennen oder nicht. Die Brüder Skladanowsky experimentierten im Dachgeschoß des Hauses Schönhauser Allee 148 mit einer Vorform der Filmkamera. 1892 entstanden erste Aufnahmen: Auf dem Dach nahm Max seinen turnenden Bruder auf. Letztlich fehlte ihm das Kapital, um seine Erfindung weiterzuentwickeln. Dort, mit Rundumblick über Berlin, fanden seitdem zahllose Film- und Fotosessions statt. Schließlich musste ich diese – nach der Wende in den früheren Dachboden hineingebaute – Wohnung verlassen, weil sich an meinen prekären Verhältnissen in all den Jahren nicht viel geändert hatte. Im Rahmen der haltlosen Gentrifizierung Berlins waren die Mieten immer weiter gestiegen. Bislang hatte ich es als Künstlerin geschafft, mich mit Arbeiten im Umkreis des Literaturbetriebs am Leben zu erhalten. Diese neuerliche Wendung packte ich nicht mehr. Ich musste die Stadt verlassen. Mittlerweile schaue ich mit nostalgischen Gefühlen den Defa-Streifen Berlin – Ecke Schönhauser aus dem Jahr 1957, schreie laut auf, wenn ich darin die Kreuzung Danziger/Schönhauser/Eberswalder aus verschiedenen Perspektiven erkenne, und freue mich, wenn das Eckhaus, in dem ich so lange gewohnt habe, als Gruß aus der Vergangenheit am Bildschirm erscheint.
Sabine Scholl, studierte in Wien, lehrte in Aveiro, Chicago, New York, Nagoya, unterrichtete Literarisches Schreiben an der Schule für Dichtung Wien, am Deutschen Literaturinstitut Leipzig, an der UDK Berlin und am Institut für Sprachkunst der Angewandten Wien. Publikationen (Auswahl): Transit Lissabon (Roman, 2024), Haben und Gehabe – Klasse und Herkunft in der Literatur (2025). Sie ist Teil des Beirats der PS: Politisch Schreiben.