Klassismus überwinden: Die Kraft der Kurzfilme
Klassismus überwinden: Die Kraft der Kurzfilme
von Parisa Ghasemi
Das Kino spiegelt die Gesellschaft wider, verstärkt Machtstrukturen, prägt kulturelle Werte und beeinflusst, welche Geschichten sichtbar werden – und welche unsichtbar bleiben. Klassismus zeigt sich im Zugang zu Ressourcen, aber auch in der Auswahl der erzählten Perspektiven. Wer erzählt diese Geschichten, und wer bleibt ausgeschlossen?
Klassismus im Kino umfasst nicht nur die Repräsentation sozialer Klassen, sondern erfordert auch eine intersektionale Perspektive. Als Initiatorin eines internationalen Kurzfilmfestivals und einer Talentakademie für angehende Filmemacher:innen erlebe ich immer wieder, wie soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten darüber entscheiden, wer Filme machen kann. Klassismus ist allgegenwärtig: oft unsichtbar für diejenigen, die von ihm profitieren, doch spürbar für jene, die strukturelle Barrieren überwinden müssen.
Repräsentation im Kino ist ein Akt politischer und kultureller Gestaltung. Ein Kino, das primär die Sichtweise der Privilegierten widerspiegelt und marginalisierte Kämpfe ignoriert, stabilisiert Ungleichheiten. Ein intersektional-feministischer Ansatz erkennt die Vielfalt menschlicher Identitäten an und adressiert Machtstrukturen wie Geschlecht, Herkunft oder Sexualität.
Ich erinnere mich an Berichte von Filmemacher:innen über die Frustration mit Förderverfahren und Belästigungen in der Filmszene bis hin zur Frage, ob sie sich ein Leben als Filmschaffende leisten können. Gespräche mit Frauen, queeren Menschen oder Migrant:innen, die durch Rassismus und Sexismus doppelt marginalisiert werden. Die Dominanz weißer, männlicher, privilegierter Perspektiven im Film macht alternative Realitäten unsichtbar oder reduziert sie auf Klischees.
Filmfestivals als Gatekeeper
Klassismus im Kino beeinflusst sowohl die Produktion als auch die Wahrnehmung von Filmen. Oft bestimmen Filmfestivals, welche Filme „sichtbar“ werden, welche Filmemacher:innen internationale Aufmerksamkeit erhalten und wer sich eine Karriere aufbauen kann. Durch technologische, institutionelle und kulturelle Barrieren verstärken Festivals bestehende Ungleichheiten und tragen zur Reproduktion von Klassismus bei.
Als Festivaldirektorin und Filmemacherin konnte ich sowohl auf der Seite der Filmproduktion als auch im Festivalbetrieb erfahren, dass viele Filmfestivals Filme bevorzugen, die mit bestimmten Kameras oder Technologien − von hochentwickelten Produktionsmitteln bis hin zu Digitaltechnik oder 35mm-Film − produziert wurden. Diese Barrieren benachteiligen Filme mit niedrigeren Budgets und weniger Zugang zu Technik, besonders aus Ländern mit geringeren Produktionsressourcen, obwohl diese inhaltlich und kreativ sehr stark sein können. Eine klare Präferenz besteht zudem für Werke etablierter Filmemacher:innen und Absolvent:innen renommierter Filmhochschulen. Nachwuchs ohne Zugang zu diesen Netzwerken hat es schwer, Filme zu platzieren: Marketing, Distributoren und Prominenz sind entscheidend für den Zugang zu Festivals. Und Festivals wiederum bestimmen oft den “Marktwert” eines Films. Ein Film, der es auf ein bedeutendes Festival schafft, hat in der Folge deutlich bessere Chancen auf Vertrieb, Finanzierung und Publikum.
Diese Machtkonzentration bei wenigen Festivals schafft eine unfaire Hierarchie und wenig Raum für alternative Perspektiven. Ästhetische und kulturelle Biases westlicher Festivals prägen die Auswahlkriterien: Filme aus dem Globalen Süden, aus weniger bekannten kulturellen Kontexten oder mit unkonventionellen Erzähltechniken müssen westlichen Standards entsprechen, um anerkannt zu werden. Kritische Perspektiven oder alternative künstlerische Sprachen werden häufig nicht ausreichend gewürdigt, was die kulturelle Dominanz des Westens bzw. bestehende Hierarchien innerhalb der Filmindustrie bestärkt.
Kurzfilme als demokratische Antwort auf den Klassismus im Kino
In der Filmindustrie hat sich zudem eine Hierarchie entwickelt, die längeren Produktionen Vorrang gibt. Zu Beginn der Filmgeschichte war das Kino ein populäres und zugängliches Format und Filme waren kürzer, doch die Kommerzialisierung veränderte die Machtverhältnisse. Kino gerät zunehmend in die Hände der finanziell und kulturell Privilegierten. Viele Stimmen wurden verdrängt, während ein „gehobenes“ Kino entstand, das mit etablierten Institutionen verbunden ist.
Es stellt sich die Frage, wer eigentlich darüber entscheidet, dass ein Film 90 oder 120 Minuten lang sein muss. Die Entscheidung für ein standardisiertes Format basiert weniger auf künstlerischem Wert als auf Marktlogik. Der Kurzfilm bleibt oft im Schatten längerer Formate, obwohl er ebenso Geschichten erzählen und Emotionen wecken kann.
In einer Zeit, in der Online-Plattformen und soziale Medien dominieren, sind Kurzformate – zumindest in diesem Kontext – wieder Standard. Zuschauer:innen sind an kompakte Inhalte gewöhnt. Der Kurzfilm stellt also eine attraktive Lösung dar, um das Kino relevanter, zugänglicher und inklusiver zu machen. Aber die Filmindustrie scheint das noch nicht so recht zu bemerken.
Um Klassismus im Kino zu überwinden, müssen Kinos und Festivals ihre Rolle hinterfragen und den Auswahlprozess inklusiver gestalten. Die Förderung von Kurzfilmen und niedrig-budgetierten Produktionen könnte ein zentraler Schritt sein. Kurzfilme unterliegen weniger finanziellen und strukturellen Zwängen und bieten Raum für vielfältigere Perspektiven. Sie ermöglichen es, unabhängig Geschichten zu erzählen, fördern die Demokratisierung des Kinos und geben Menschen aus allen sozialen Schichten eine Stimme.
Kurzfilme als Standardformat in Kinoprogrammen könnten die Akzeptanz dieses Formats und die Sichtbarkeit marginalisierter Stimmen erhöhen. Festivals, die Kurzfilme als gleichwertige Kunstform anerkennen, tragen dazu bei, den Klassismus im Kino zu bekämpfen. Bildung für das Publikum und zielgerichtetes Marketing können das Verständnis für die Bedeutung von Kurzfilmen vertiefen.
Klassismus im Kino zu überwinden, erfordert nicht nur Sichtbarkeit für verschiedene soziale Klassen, sondern auch die Infragestellung von Machtverhältnissen, die den Zugang zu Festivals und Kinos bestimmen. Die kommerziell geprägte Norm, den Wert eines Films an seine Länge zu knüpfen, schränkt künstlerische Freiheit ein. Kurzfilme bieten Platz für Narrative abseits dominanter Strukturen und fördern Inklusion. Dieses kraftvolle Format wird zum Werkzeug sozialer Veränderung und rückt die wahre Stärke des Films in den Mittelpunkt: Geschichten zu erzählen, die uns ALLE betreffen.
Parisa Ghasemi ist eine im Iran geborene, in Österreich tätige Filmemacherin, Kuratorin und queer-feministische Aktivistin. Sie thematisiert in ihren Arbeiten Identität, Zugehörigkeit und soziale Gerechtigkeit. Ihr aktueller Film „Mein Perfekter Geburtstag“ feierte 2024 Weltpremiere beim Vienna Short Film Festival. Als Mitbegründerin des Linz International Short Film Festivals und Leiterin der „Talent Academy“ fördert sie Vielfalt und Nachwuchstalente. Ihr akademischer Hintergrund in Film, Regie/Kamera und Medienkunst prägt ihre Filmsprache.