Let’s get carried away …
Let’s get carried away …
Ein Nachdenken über erträumte Zukünfte im Kino
von Lisa Heuschober
Kino ist ein Ort, an dem wir Möglichkeiten miteinander erproben – um es in Anlehnung an Stavros Stavrides Gedanken zur Gestaltung gemeinschaftlicher Schaffensprozesse und „common grounds“ zu sagen. In seinem Vortrag „Emancipatory Commoning as a Process of Collective Inventiveness“ eröffnet er, dass das Neudenken sozialer Organisation der Imagination bedarf – „an active reimagining what the future can be.“(1) Emanzipatorische Prozesse greifen dabei laut Stavrides auf gemeinschaftlichen Einfallsreichtum zurück und dieser wiederum darauf, Kunst zu nutzen, um andere Welten zu erkunden, die über jene hinausgehen, in denen wir derzeit leben. Oder wie die Historikerin Saidiya Hartman es beschreiben würde: „I think that artistic practice becomes the exercise of imagining beauty and what it might make possible in the world.“(2)
An Kino als einen Ort für gemeinschaftlichen Einfallsreichtum glaubend, gestaltet das YOUKI – International Youth Media Festival seit 1998 jährlich in Wels/Österreich kollektive Lernräume für junge Kunst-, Medien- und Kulturarbeiter*innen. In Zusammenarbeit mit einem Team aus ebendiesen, leitete ich die Gestaltung und Organisation der YOUKI- Vermittlungsprogramme von 2019 bis einschließlich 2024 Bei der Festivalausgabe 2024 hat sich das Team für die Notwendigkeit ausgesprochen, eine Reflexion über Gemeinschaftlichkeit und kollektive Arbeits- und Denkprozesse anzustoßen: Wie können Plattformen und Formate aussehen, die vielfältige Perspektiven und Zusammenschlüsse im Kino verorten? Wie kann Kino selbst Gemeinschaft herstellen und welche Zukünfte lassen sich in diesen Gemeinschaften erdenken und erproben – und wozu? Wie müssen hierarchische Setzungen innerhalb des Kinos dafür verschoben werden?
YOUKI als Lernraum
YOUKI – International Youth Media Festival widmet sich als Jugendmedienfestival einem jungen, kunst- und medieninteressierten Publikum und vor allem auch jungen Künstler*innen und Kulturarbeiter*innen, die in den Bereichen Film, Musik, Literatur, Publishing, Bildender Kunst (und an deren Schnittstellen) arbeiten. Neben einem internationalen Kurzfilmwettbewerb präsentiert YOUKI jedes Jahr eine Vielfalt an Workshops, Diskurs- und Vermittlungsformaten.
Das Festival zeichnet sich vor allem als Lernort nach innen und außen aus: Organisator*innen, Gestalter*innen und Besucher*innen verstehen sich als Lernende, möchten künstlerische Praxen erproben und dabei aber auch Industry-Standards der Film- und Medienbrache wie auch das eigene Arbeiten ständig hinterfragen und neu lernen. YOUKI bildet einen Rahmen, in dem nicht nur generelle Fragen nach den Bedeutungen und (Un-)Möglichkeiten von Film und Kino gestellt werden, sondern auch etablierte Programm- und Vermittlungsformate umgedacht werden können. Ein kritischer Umgang mit der Produktion von Film und Kino entspringt der Auffassung des Teams, dass es sich bei Kino oft nach wie vor um einen hierarchisch strukturierten Raum handelt, der Sichtbarkeit für bestimmte Gruppen und Unsichtbarkeit für andere herstellt; in dem Geschichten, Erfahrungen und Personen marginalisiert werden. In diesem Sinne bedarf es dort, wo Kinos gesellschaftliche Ungleichverhältnisse reproduzieren, aktiver Konstruktionen entgegengesetzter Kinoräume, die einen Bruch mit der bestehenden Kanonisierung einfordern und praktizieren, um dadurch Vielfalt sichtbar machen und Gemeinschaft solidarisch neu ordnen zu können.
Gemeinschaftlichkeit durch Film und Kino
Das Bedürfnis nach einer kritischen Auseinandersetzung mit Film und Kino zeichnete sich in den vorbereitenden Arbeiten der YOUKI Festivalausgabe 2024 im Team ab. Gewünscht wurde als Gegenentwurf ein inklusiver Lernort, der Perspektivenvielfalt und Gemeinschaft nicht nur thematisiert, sondern auch ermöglicht. Mit diesen Bedürfnissen wollten meine Kollegin Martina Genetti, die von 2022–2024 YOUKIs Internationalen Filmwettbewerb leitete, und ich einen Umgang finden. Dafür gestalteten wir unter anderem eine Mastersclass(3) zu kollektiven Filmpraxen für die Festivalausgabe 2024.
Durch das aktive Versammeln von sechs Filmprojektenund deren Gestalter*innen, die einen kollektiven Ansatz verfolgen, sollten filmische Denk- und Arbeitsweisen beleuchtet werden, die sich als Möglichkeit für gemeinschaftliches Erzählen, Imaginieren und Lernen verstehen. Ein großes Anliegen war neben der inhaltlichen Auseinandersetzung mit Kollektivität, durch das Format selbst eine Gemeinschaft herzustellen, die kritisch mit Machtstrukturen umgeht. Rosa Barba beschreibt in ihrem Buch „On the Anarchic Organization of Cinematic Spaces“ (Berlin, 2021) die Gestaltung von Cinematic Spaces, die hierarchische Anordnungen durchkreuzen. Dabei misst sie für die Etablierung alternativer Diskurse den fluiden Positionen und Beziehungen zwischen den Beteiligten eine große Bedeutung zu: „The importance of creating these cinematic spaces is that it allows for an alternative discourse and an alternative mode of communication – where both transmitter and receiver are fluent.“(4)
Im Diskursformat selbst wollten wir daher vor allem hierarchisch geprägte Sprecher*innenpositionen, Dialog- und Lernbeziehungen im Kino abbauen. Wir empfanden es als nötig, Rollenwechsel zwischen allen Beteiligten zu erzeugen, um mit bekannten Verhältnissen von Redner*innen als aktiv/wissend und Zuhörer*innen als passiv/lernend zu brechen und – wie Barba es beschreibt – andere Kommunikationsdynamiken zu etablieren. Dafür wurde zwischen den Präsentationen der sechs geladenen Filmprojekte Diskussionen zwischen allen Beteiligten initiiert. Hierbei wurden nicht nur die Redner*innen nach Expertise, sondern der gesamte Raum nach Wissen, Erfahrungen und Feedbackbefragt, wodurch das Publikum selbst zur Inputgeber*in wurde. Bei diesem Vermittlungsformat wurde durch die Gestaltung des Austausches Expertise aus dem gesamten Raum versammelt und in der Begegnung gemeinschaftlich neu geformt. Ein wichtiges Learning aus der Veranstaltung war, dass Wissen und dessen Vermittlung, aber auch das Erzählen von Geschichten und die Gestaltung von Film grundlegend kollektiv sind. Wissen und kreative Schaffensprozesse entstehen laut den Teilnehmer*innen immer aus Austausch. Sie sind das Ergebnis von Verhandlungen mit bestehenden situierten Erfahrungen und bauen auf kollektiven Lern- und Arbeitsprozessen auf. Um diese verschiedenen Wissensstände und Erfahrungen sichtbar zu machen, um situiertes Wissen anzuerkennen und dadurch Perspektivenvielfalt im Kino zufördern, sprachen sich die Teilnehmer*innen am Ende der Veranstaltung für eine Anerkennung eben dessen aus. Eine Anerkennung, die mit einem Verwurf patriarchaler Genie-Vorstellungen rund um Autor*innenschaft einhergeht und sich klar gegen Vorstellungen von Innovation und Kreativität als individuelle „Erfindungen“ oder individualisierbares Eigentum stellt.
Kollektive Impulse zu Allianzen spinnen
In der geteilten Erfahrung des Lernformats entstand die gemeinsame Auffassung, dass jene hierarchischen Strukturen, durch die Kino oft organisiert wird, aktiv destabilisiert und neu gedacht werden müssen, um Gemeinschaft und machtkritische Diskussionen zu ermöglichen. Das Gestalten dieses spezifischen Lernraumes soll(te) selbst aber weder ein neues abgeschlossenes Vermittlungsformat noch ein Best-Practice-Beispiel sein, sondern vor allem zum Nachspüren anregen: Wozu der Verwurf individualisierter Autor*innenschaft, das Bilden von Gemeinschaften, das Erproben von Möglichkeiten im Kino?
Die Autorin Lola Olufemi navigiert in ihrem Buch „Experiments in Imagining Otherwise“ (London, 2021) – wie Stavrides und Hartman – zwischen dem, was ist, und dem, was sein könnte. Auf der Grundlage von Black Feminist Scholarship und Gedanken zu politischer Organisation formuliert sie durch Gedichte und Prosa eine Erkundung von Möglichkeiten, sich Anderes vorzustellen als die Machtgefälle, in denen wir leben. Daraus schlussfolgert sie, dass künstlerische wie politische Vorstellungskraft kollektive Bemühungen erfordern und schreibt: „This notion of collectivity […] goes beyond the category of ‘socially engaged art’, goes beyond fickle definitions of a singular artist engaging with the community. It means an end to the figure of the Individual Artist altogether. Only then can we begin to conceptualise political organising as creative space.“(5) Wie die Teilnehmer*innen der YOUKI „Mastersclass“ kritisiert Olufemi die Vorstellung von Künstler*innen als isolierten Kreativen und erklärt,dass diese nur gesellschaftliche Hierarchien reproduzierten. Ihrer Meinung nach sind kreative Praktiken, die Zugehörigkeit, Verbindung und Solidarität fördern, notwendige Formen der politischen Organisation gegen gewalttätige Machtdynamiken.
Aus diesem Blickwinkel betrachtet, kann gemeinschaftliche kreative Arbeit nicht nur neu erdenken, was Kunst bedeutet, sondern auch, wie und mit welchen Zielen politische Allianzen gebildet werden können. Eine kritische Auseinandersetzung mit Autor*innenschaft zugunsten kreativer Praxen der Verbundenheit, eröffnet demnach nicht nur im Kino die Chance für andere Erzählungen. Es ist eine Möglichkeit, sich die Welt anders vorzustellen und diesen kreativen Prozess als Form politischer Allianzenbildung zu verstehen und zu nutzen.
Lisa Heuschober ist Kuratorin, Kulturarbeiterin und Autorin mit Arbeitsmittelpunkt in Wien, AT. Seit 2024 ist sie Ko-Leiterin des Filmfestivals Tricky Women Tricky Realities, das Animationsfilm aus feministischem Blickwinkel kuratiert und präsentiert. Von 2019 – 2024 war sie Teil von YOUKI, wo sie das Vermittlungsprogramm leitete. Als freie Autorin schrieb sie zuletzt u.a. für Kolik. Film, die Zeitschrift Tagebuch und das Filmmagazin Filmlöwinnen zu den vielfältigen Erzähl- und Handlungsmöglichkeiten durch Film und Kino.
Fußnoten:
(1) „Emancipatory Commoning as a Process of Collective Inventiveness“ im Rahmen des Cinema of Commoning Symposiums im Juli 2024. Online: https://cinemaofcommoning.com/2024/09/30/emancipatory-commoning-as-a-process-of-collective-inventiveness/ Zuletzt abgerufen: 15.01.2025
(2) „Saidiya Hartman. Gallery 214: Critical Fabulations“, MOMA 2021. Online: https://www.moma.org/audio/playlist/298/4088. Zuletzt abgerufen: 15.01.2025
(3) Bei dem Format der „Masterclass“ handelt es sich um ein gängiges Format in u.a. der Filmbranche, bei dem Expert*innen Einblick in ihre künstlerischen und inhaltlichen Auseinandersetzungen und Arbeitsprozesse geben. In der Veränderung des Begriffs hin zur Mastersclass (plural) sollte sich bereits abzeichnen, dass es „den einen Master“ nicht gibt. Nach der Veranstaltung haben wir den Begriff Master komplett verworfen – der Titel der Veranstaltung wird in diesem Text aber für ein besseres Verständnis, sowie in aktueller Ermangelung einer Alternative weitergeführt.
(4) Barba, R. (2018). On the Anarchic Organisation of Cinematic Spaces: Evoking Spaces beyond Cinema (22 ed.). Malmö Faculty of Fine and Performing Arts, Lund University. S. 15
(5) Olufemi, Lola. 2021. Experiments in Imagining Otherwise. Maidstone: Hajar Press. S. 114-115