Alleinerziehende auf der Berlinale: Der Preis einer Trennung
Alleinerziehende auf der Berlinale: Der Preis einer Trennung
von Lena Schubert
Ein paar Alleinerziehende sind auf dieser Berlinale zu sehen. Nicht nur auf der Leinwand und hinter den Kulissen, sondern mit Sicherheit auch im Publikum: Rund 1,7 Millionen Solo-Eltern mit minderjährigen Kindern leben in Deutschland. Diejenigen, die trotz Zeitnot und Geldmangel im Kinosessel gelandet sind, haben entweder Teenie-Kinder oder ihre Care-Verpflichtungen für die Dauer des Films an Verwandte, Freund*innen oder Babysitter*innen abgegeben. Ob die Vorstellung 70 Minuten oder 3 Stunden dauert, macht für sie einen Unterschied, denn jede Sekunde fehlt anderswo: um Geld zu verdienen, die Spülmaschine auszuräumen, eine Erkältung auszukurieren, Secondhand-Kinderschuhe aufzutreiben. Und es ist Zeit, die fehlt, um sich zu engagieren. Gegen den Fakt, dass Alleinerziehende in Deutschland das größte Armutsrisiko tragen. Gegen eine Realität, in der eine Trennung mit Kind oft Ausschluss und Abstieg bedeutet.
Immerhin befassen sich einige Berlinale-Filme mit dieser Situation, die in fast allen kapitalistischen Gesellschaften ähnlich ist; so auch im österreichischen Wien, dem Schauplatz von Marie Luise Lehners Wenn du Angst hast, nimmst du dein Herz in den Mund und lächelst. Der Debütfilm erzählt von Scham, Stolz und Selbstbestimmung im Leben der 12-Jährigen Anna und ihrer Mutter Isolde. Statt klischeehaften Erzählungen von Armut, die oft um männliche Arbeiter kreisen, stellt Lehner die Klassenerfahrung von weiblichen und queeren Alleinerziehenden in den Fokus. Ihre Figuren spiegeln dabei reale Zahlen: Nur 10% der Alleinerziehenden sind Männer, zumindest in Deutschland. Vor allem Mütter tragen also das Armutsrisiko dieser Lebensform. Die Gründe liegen auch in patriarchalen Strukturen, etwa dem Gender Pay Gap und der gesellschaftlichen Geringschätzung von Sorgearbeit. Für Expert*in Francis Seeck sind Alleinerziehende deswegen Anlass, Klassismus „auch als ein feministisches Thema zu betrachten“ und „sich die Verwobenheit von Sexismus und Klassismus anzuschauen. So überlagern sich im Alltag der Protagonistinnen von Wenn du Angst hast, nimmst du dein Herz in den Mund und lächelst mehrere Formen der Benachteiligung. Als gehörlose Arbeiterin erlebt die Mutter auch Ableismus, also die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen. Auch diese Gruppe trägt ein erhöhtes Armutsrisiko – unter anderem weil sie in vielen Berufsfeldern unterbezahlt oder ausgegrenzt wird. Das betrifft auch die Filmbranche, wo Menschen mit Behinderungen nur selten beschäftigt werden und kaum als Schauspieler*innen auftreten. Anders in Wenn du Angst hast, nimmst du dein Herz in den Mund und lächelst: Mariya Menner, die Darstellerin der Mutter, ist laut der Regisseurin die erste gehörlose Schauspielerin der österreichischen Filmgeschichte. Das Drehbuch haben sie gemeinsam überarbeitet. Das Ergebnis ist ein Film über Alleinerziehende, der keine Stereotype bedient, sondern individuelle Erfahrungen erzählt – und gerade deswegen klarmacht, wie stark Klassismus mit anderen Diskriminierungen verknäuelt ist.
Zwar teilen Alleinerziehende gemeinsame Hindernisse, dennoch können sie nicht auf eine gesellschaftliche Figur zusammengeschmolzen werden. Das zeigt auch ein Vergleich mit dem belgischen Berlinale-Beitrag On vous croit, der eine alleinerziehende Mutter und ihre beiden Kinder vors Jugendgericht begleitet, wo der Ex-Partner das Umgangsrecht einklagen will. Auch wenn die Figuren fast nur in den sterilen, vollverglasten Innenräumen eines Justizturms gezeigt werden, nicht in ihren alltäglichen Lebenswelten, vermittelt der Film die Klasse der Elternteile durch ihr Auftreten: Beide tragen Jacketts und Goldschmuck. Und beide werden von Anwältinnen dabei unterstützt, mit ihrem Verhalten vor der Richterin Unangreifbarkeit zu performen. Allerdings: Während der Vater in diesem Habitus verharrt, wird er bei der Mutter durch die panische Sorge um ihre Kinder zerrüttet.
Dass das Gefälle zwischen den Eltern auch durch Geld geprägt ist, zeigt sich erst während der Verhandlung. Denn obwohl die Kinder ihren Vater seit zwei Jahren nicht mehr besuchen wollen, zahlt er weiterhin die Krankenversicherung. Dank der Rechnungen weiß der Ex-Mann auch über die Inkontinenz des Sohnes Bescheid. Seine Anwältin schlussfolgert, die Mutter wolle das Schulkind durchs Windelwechseln an sich binden. Auch der vom Gericht eingesetzte Anwalt der Kinder argumentiert gegen die Protagonistin: Es sei „in dieser Welt“ schlicht nicht möglich, alleine für Tochter und Sohn da zu sein. In seiner Weltsicht ist der einzige Kandidat für eine zusätzliche Bezugsperson der Vater. So weit, so patriarchal. Während die Plädoyers aus dem Off zu hören sind, hält die Kamera auf das Gesicht der Mutter und offenbart in ihren Zügen die Grausamkeit der Argumente. Erst zum Schluss kann ihre Verteidigerin eine Gegenrede halten: Vor zwei Jahren habe der Sohn seinem Vater sexuellen Missbrauch vorgeworfen. Weil es keine Zeug:innen gibt, ist der Vater bislang nicht schuldig gesprochen – und konnte mit seiner Sorgerechtsklage zur Offensive übergehen.
Nicht wenige Mütter trennen sich wegen körperlicher oder emotionaler Gewalt von ihren Partnern. Nicht selten versagen Väter auch deswegen als Bezugspersonen und Caregiver, weil sie ihren Kindern nicht gut tun. Sexueller Missbrauch ist dabei nur das viel zu häufige Extrem: Auch ohne Übergriffe stehen viele Frauen vor der Entscheidung, ob sie mit einem Partner zusammenbleiben und Probleme ertragen, oder sich trennen und das Armutsrisiko, die Fürsorgelast und das Stigma auf sich nehmen. Diese Fallhöhe wird in On vous croit nur angedeutet, obwohl ausgerechnet Anwaltskosten eine enorme Finanzlast sein können. Dabei dürfte Charlotte Devillers, eine Hälfte des Regie- und Drehbuch-Duos, sich der ökonomischen und sozialen Abhängigkeit von Frauen und Kindern eigentlich bewusst sein: Sie arbeitet seit Jahren in der Missbrauchsprävention. Vielleicht spart ihr Drehbuch Abstieg und Armut bewusst aus, um nicht auf das Klischee von Kindesmissbrauch und häuslicher Gewalt als „Milieuproblem“ einzuzahlen.
Dass der Preis einer Trennung oft viel zu hoch ist, offenbaren beide Filme – auch wenn die alleinerziehenden Protagonist*innen in Klassenfragen kaum unterschiedlicher sein könnten. Das zeigt, wie wichtig es ist, dass Solo-Eltern endlich weniger Isolation und mehr Solidarität erfahren: Nicht nur untereinander, über Klassendifferenzen hinweg, sondern auch in der Gesamtgesellschaft. On vous croit, zu deutsch „Wir glauben euch“, ist nicht nur in Missbrauchsfällen ein Schlüsselsatz: Der Beginn jeder Solidarisierung liegt darin, die Erfahrungen von Alleinerziehenden ernst zu nehmen, ihre individuelle Position ebenso anzuerkennen wie ihre gemeinsamen Benachteiligungen. Die Berlinale könnte dazu beitragen: Indem mehr Filme gezeigt werden, die Geschichten der Solidarität erzählen und dabei Differenzen von class, race, gender und dis/ability berücksichtigen. Und auch die Veranstaltungsform Filmfestival müsste neu gestaltet werden: Was, wenn es auf der Berlinale kostenlose Kinderbetreuung für alle gäbe?