Care-Arbeit und Lichtmetaphysik
Care-Arbeit und Lichtmetaphysik
von Barbara Eder
Kaum ein Fenster des Berliner Wohnblocks ist nachts noch erleuchtet, nur hinter einem flackert und pulsiert es unentwegt. Dort hat Farrah (Tala Al-Deen) vorübergehend eine Bleibe. Die aus Syrien geflüchtete Frau sucht mithilfe einer Lucia-Lampe ein Trauma zu kurieren und setzt dabei auf den Stroboskop-Effekt von hochfrequenten LEDs. Farrahs Hände zittern, ihr Puls rast. Vor dem Licht, das Tom Tykwers diesjährigem Berlinale-Eröffnungsfilm seinen Titel gibt, beginnt sie zu hyperventilieren. Gegen Ende wird sie noch einmal mit anderen vor der Lampe sitzen, sich in Zuckungen winden und dabei laut schreien.
Seit es E-Mail-Protokolle und Messenger-Dienste gibt, ist kommunikativer Fernverkehr nichts Ungewöhnliches. Farrah funkt mit ihrer Lampe jedoch nicht über Distanzen hinweg, sie tritt damit vertikale Reisen an. Wenn sie vor der blinkenden Leuchte sitzt, sieht sie Szenen aus ihrer Vergangenheit, immer und immer wieder. Ihr Trauma, so lässt Tykwer die Betrachter:innen reichlich spät wissen, hat eine Ursache: Farrahs Familie ist, anders als zu Filmbeginn behauptet, nicht bloß weit entfernt, sondern auf der Flucht untergegangen. Und Farrah, die gerade noch entkommen konnte, sieht ihrem Mann und ihren zwei Kindern gegen Ende des Films noch einmal beim Ertrinken zu. Wer Wasser atmet, erstickt. Bei Tykwer kommt dieser Tod ästhetisch überhöht – in schnell geschnittenen Unterwasser-aufnahmen, schwarz abgeblendet und rhythmisch dem Lichtimpuls folgend.
In Das Licht gibt es weder Seenotrettung noch Trauma-Ambulanz, dafür aber viel Licht-Metaphysik. Was für Walt Disney’s Aladdin die Wunderlampe, das für Tykwers Antigone die Leuchte: Wunschmaschine und Übertragungsmedium zugleich. Der Rest ist eine Mischung aus Melancholie und Schamanismus. Demnach heißt es zu Beginn des Films: “Seelen, die nicht loslassen können, brauchen Geleit”. Farrah, die ihre Toten nie begraben konnte, sucht in Deutschland nach stabilen Behältnissen für ihre Seelen – und bewirbt sich als Haushälterin bei einer Berliner Familie. Auch dort gibt es Vater, Mutter und Zwillinge – doch noch viel mehr als das: Der monatliche Verdienst im Doppelverdiener-Haushalt ist hoch genug, um eine migrantische Care-Arbeiterin anzustellen.
In der geräumigen Charlottenburger Altbauwohnung eines im Bürgertum verwurzelten Alternativ-Milieus hat jede:r mehr als nur ein Zimmer für sich. Die Mitglieder der “kreativen Klasse” residieren mit subtiler Arroganz im gepflegten Chaos einer Patchwork-Familie, der uneheliche Sohn Dio (Elyas Eldridge) von Mutter Milena (Nicolette Krebitz), entstanden auf einer Dienstreise nach Kenia, kommt wenig später hinzu. Werbemann Tim (Lars Eidinger) radelt für die Dauer des gesamten Films durch die pitschnasse Stadt und kommt doch zu jeder Paartherapie-Einheit zu spät. Während sich Tochter Frieda (Elke Biesendorfer) mit Partydrogen betäubt, schlägt Sohn Jon (Julius Gause) virtuelle Schlachten am Computer. Als die polnische Haushälterin (Şiir Eloğlu) beim Wäscheaufhängen tot umfällt, bemerkt dies eine Nacht lang niemand. So also sieht der Alltag aus – für “eine ganz normale dysfunktionale deutsche Familie, wo jeder sein eigenes Süppchen kocht und sich einen Scheiß’ um den anderen schert” (Frieda).
Mit Farrah hat Tom Tykwer eine Figur fernab der Opferrolle geschaffen, gut ausgebildet und der Sprache des Einwanderungslands von Beginn mehr als mächtig. Sie ist nicht die “bedrohliche Andere” der “rohen Sitten” und “archaischen Gebräuche”, zuletzt verkörpert durch den albanischen Bauer Jetnor (Jetnor Gorezi) in Sudabeh Mortezais Drama “Europa” (2023), der seinem deutschen Gegenüber (Lilith Stangenberg) aus purer Gastfreundschaft Innereien anbietet und sein von einem europäischen Konzern beschlagnahmtes Stück Land mit Schlagstöcken verteidigt. Farrah erfüllt alle Klischees der orientalischen Weisen, die mit “morgenländischer” Mystik und gefühlter Intuition die deutsche Mehrheitsgesellschaft bereichert – und das, obwohl Schamanismus in Syrien keine weit verbreitete spirituelle Praxis ist. Demnach vermittelt ihre Fallmanagerin am Arbeitsamt sie auch nicht ins nächstgelegene Logistik-Zentrum, für die Psychologin mit Studienabschluss hat sie Höherwertiges in Aussicht. Als obskures Objekt der Begierde erweist Farrah sich erst, als ihre Lichttherapie unerwünschte Folgen zeitigt. “Bist Du jetzt Putzkraft oder Psychologin?”, fragt Tim sie in einem Berliner Späti. Der schleichende Prozess der Entwertung darf nun beginnen.
Mit Das Licht hat Tykwer kein Teorema dieser Tage geschaffen, laut ZEIT-Interview hätte sein Film jedenfalls Anklänge daran erwecken sollen. Doch Tykwers Farrah erweist sich zwar nicht immer als gute Seele, über weite Strecken des Films bleibt sie jedoch gezähmter Gast. Ihr fehlt der revolutionäre Impetus eines Terence Stamp, der in Pasolinis Parabel als namenloser “L’Ospite” im Garten einer Mailänder Industriellenfamilie sitzt und Rimbaud-Gedichte liest. Der queer-sozialistische Messias, ganz Körper, ganz Lust, sprengt allein durch seine Anwesenheit das heteronormative Familienkorsett: Nach seinem Verschwinden wird die Haushälterin zur Heiligen, der Sohn zum Homosexuellen und die Tochter sprachlos; die Mutter verliert sich in Affären und der Vater überlässt seine Fabrik den Arbeiter:innen. In Tykwers “typisch deutschem” Familienhaushalt hingegen bleibt – im Sinne des Kapitalverhältnisses – vieles beim Alten: Nach Farrahs Ankunft interessieren sich die Eltern nun endlich auch für die Computerspiele des Sohnes und die politisch eher wirkungslosen Spektakel-Aktionen der Tochter, die als exemplarische Vertreterin der “Letzten Generation” herhalten muss. Bevor der Dialog mit der Jugend beginnt, gibt es weitere unbetrauerte Tote. Ein migrantischer Essenszusteller wird im Alltagsstress von einem LKW überfahren – aber auch das hat im Film kaum jemand bemerkt.
Im Rahmen einer von Farrah im Familienkreis initiierten Séance stehen sich die deutsche und die syrische Familie gegen Ende des Films im selben Raum der falschen Bilder gegenüber. Wände brechen, Wasser strömt ein – und eigentlich müssten alle ersticken. Dies aber geschieht nicht. Mediatisiert durch eine Wunderlampe, wird Farrahs Trauma einen momentlang zur Kollektivfantasie, von Dio jäh unterbrochen, der unruhig durch das Zimmer läuft. Allein sein Ausschluss aus der Familienbande spricht Bände: Als Milena von Dios Vater, der arbeitsbedingt nach Kenia zurückkehren muss, auf ihre Sorgepflicht gegenüber ihrem Kind angesprochen wird, tut sie das, was eine Angehörige der urbanen Upper Class gerne tut: Sie zahlt für zwei, steht auf und geht.