Coda: Klasse und die Filmkritikfrage
Coda: Klasse und die Filmkritikfrage
von Till Kadritzke
„In order to write, let alone think, about social class, we need to have a language for it. And yet we don’t.“ Das schreibt Cynthia Cruz in ihrem tollen Buch The Melancholia of Class: A Manifesto for the Working Class, eine Mischung aus Autosoziobiografie und militantem Pamphlet. An Cruz habe ich als erstes gedacht, als ich mich entschieden hatte, eine Schreibwerkstatt namens „Filmkritik und die Klassenfrage“ zu übernehmen. Ihr Buch und eine gemeinsame Veranstaltung im FSK-Kino zu Joanna Hoggs The Souvenir waren eine bedeutende Wegmarke für die Reflexion meiner Klassenprivilegien, dem Erkennen der eigenen Lebensleistungen als gute Investments eines massig geerbten kulturellen Kapitals.
Cruz zeigt an sehr konkreten Beispielen auf, wie die soziale Herkunft nicht nur Möglichkeitsräume öffnet oder schließt, sprechfähig oder sprachlos macht, überall ist und doch verschwiegen wird, sondern vor allem wie sie direkt in unsere Wahrnehmung der Welt eingeht, der Welt und ihren Filmen. Meine Sicht auf The Souvenir, ein absoluter Lieblingsfilm, ist ein anderer, seit ich Cruz gelesen und ihr zugehört habe, nicht weil ich irgendein Urteil revidiert oder den Film seither mehr oder weniger schätze, sondern weil ich, indem sie mir ihren Blick vermittelt hat, einen anderen Film gesehen habe. Weil wir eben andere Dinge sehen, je nachdem, aus welchem Hause wir kommen.
Die hier versammelten Texte sind der sogenannte Output einer Werkstatt mit zehn Teilnehmenden, in die ganz schön viel Input geflossen ist: Texte wie der von Cruz, den wir gelesen und diskutiert haben, die Beiträge unserer tollen Gäste Francis Seeck und Paola De Martin, und vor allem der ständige Austausch in unserer Gruppe, zunächst in den Sitzungen, aber bald auch per Mail, über eine Messenger-Gruppe, in einem gemeinsamen Schreibpad.
Mein Blick auf dieses Verhältnis von Input und Output hat sich während der Werkstatt verschoben. Schon als wir Aspekte und Dimensionen des Themas Film und die Klassenfrage sammeln, schwirren uns ein bisschen die Köpfe: Es geht um Produktionsbedingungen von Filmen, wer überhaupt in die Position kommt, einen Film zu machen, wer von Filmen profitiert, woher das Geld kommt und wohin es fließt, wo unsichtbare Arbeit stattfindet und wer sie leistet. Es geht darum, wie sich all das in Filmen selbst niederschlägt, wie Filme Klasse darstellen, was sie produktiv sichtbar machen, wie sie klassistische Stereotypen reproduzieren, und was es mit neuen Trends wie autofiktionaler Aufstiegsgeschichten oder den Eat-the-Reach-Fiktionen auf sich hat. Und dann geht es ganz im Sinne von Cruz darum, was wir sehen, wenn wir Filme sehen, was das überhaupt für ein Wir sein soll, wenn unsere Wahrnehmung von unserer je spezifischen Biografie geprägt ist, von unseren unterschiedlichen Positionen in einem Gefüge, das wir gerade zu analysieren versuchen.
Und all das, während wir um 7:30 aufstehen, um Berlinale-Tickets zu buchen, Programmpläne zusammenstellen, mögliche interessante Filme raussuchen, im Kino sitzen, weiterdenken, weitersprechen, neue Inputs bekommen, Ideen haben, aber schon weiterhetzen müssen, zwischendurch essen, irgendwann schlafen, und es geht von vorne los.
Das Wir, das ich hier nutze, ist ein spekulatives, aber ich glaube, diese Erfahrung haben viele von uns in der Werkstatt gemacht. Die Knoten in meinem Kopf zumindest haben sich durch den Austausch manchmal eher zugezogen als sich zu lockern, und aus den vielen Aspekten und Dimensionen eine Brille namens Klassenperspektive zu basteln, die wir uns einfach aufsetzen können, um dann darüber zu schreiben, was wir durch sie sehen, ist eine romantische Idee und keine realistische Praxis.
Und doch ist in dieser Werkstatt, glaube ich, ganz schön viel passiert. Vor allem ist ein Raum entstanden, ein Raum für einen solidarischen Austausch über die Verhältnisse und wie sie uns, die Welt und ihre Filme prägen. Dieser Austausch passierte lesend, sprechend, zuhörend und dann eben auch schreibend. Den Anspruch der Werkstatt würde ich deshalb im Rückblick etwas anders, etwas bescheidener formulieren: Es geht erstmal darum, sich innerhalb einer Gruppe mit Dingen auseinanderzusetzen, während man ein Filmfestival besucht. Allein das macht etwas, stellt Resonanzen her, über jedes sichtbare Ergebnis und über jeden unmittelbar entstandenen Text hinaus.
So sind die hier versammelten Texte vielleicht weniger Output als Bestandteil dieses größeren Reflexionsraumes, Verlängerung einer gemeinsamen Praxis und der Versuch, davon etwas festzuhalten. Das Schweigen über die Klassenfrage in der Filmbranche zu brechen, das war der Anspruch des thematischen Schwerpunkts der Woche der Kritik, zu der auch diese Schreibwerkstatt gehörte. Aber vielleicht ist dabei etwas ganz anderes passiert: die Praxis der Filmkritik selbst zu erweitern, weg vom einzelkämpferischen Wettbewerb um die besten Takes, originellsten Textformen und richtigsten Urteile. Im Rückblick hätte ich die Werkstatt vielleicht gerne Klasse und die Filmkritikfrage genannt.
„In order to write, let alone think, about social class, we need to have a language for it. And yet we don’t. “ Auch Paola De Martin spricht viel von der Suche nach der eigenen Sprache und Sprechfähigkeit, als sie uns besucht. In ihrer Dissertation Give Us a Break! Arbeitermilieu und Designszene im Aufbruch schreibt sie in der Einleitung: „Diese Arbeit dokumentiert eine Suche nach etwas Unbekanntem. Es ist auch die Suche nach einer adäquaten Sprache, die Dinge beschreibt, über die zuvor ein kollektives Schweigen herrschte.“ So verstehe ich auch diese Werkstatt als einen Anfang, nicht als etwas Abgeschlossenes. Lasst uns bitte dranbleiben.