Eine biografische Klassenmontage
Eine biografische Klassenmontage
Also technisch gesehen bist du jetzt Journalist – wenigstens für die Dauer der Berlinale. Mit Akkreditierung und allem. Und kritisch noch dazu!
Cut to ein paar Monate zuvor:
Du bist nach einer halbjährigen Projektstelle mal wieder seit Monaten auf Jobsuche und siehst auf einer Jobbörse die Ausschreibung für die Teilnahme an einer Schreibwerkstatt der Woche der Kritik zum Thema Berlinale aus Klassenperspektive. Das bringt dir zwar erstmal auch kein Einkommen, aber interessant ist es allemal. Und wer weiß, vielleicht ergibt sich ja was daraus. Auf dass du vielleicht doch noch mit etwas deinen Unterhalt bestreiten kannst, das dich wirklich interessiert und dir sinnvoll erscheint.
Cut to Frühling 2022:
Unglaublich! Endlich ist das Studium fertig! Im Laufe der 12 Jahre hast du wahrscheinlich häufiger gezweifelt als daran geglaubt, es noch jemals zu schaffen. Am Ende bestehst du sogar „mit Auszeichnung“!
Cut to Winter 2013:
Du stehst an der 30 in der Weiterverarbeitung bei Prinovis, der großen Druckerei am Stadtrand von Dresden. Es ist 2:31 Uhr und du stapelst jetzt schon seit 21 Uhr Pakete mit Prospekten auf eine Europalette. Noch knapp 4,5 Stunden bis zum Feierabend. 3 Jahre machst du das jetzt schon, um dir das Studium zu finanzieren. Jede Woche 2-3 Nachtschichten, immer von 21 – 6 Uhr. Die sind eher zu bekommen und du bist auf das Geld angewiesen. 7,40€ pro Stunde waren es anfangs, nicht einmal einen Nachtzuschlag gab es. Immerhin wirst du gleich mal für eine Zigarettenpause abgelöst.
Cut to Frühjahr 2011:
Du sitzt im Büro des Professors für Sprachwissenschaften. Er ist die Ansprechperson in deinem Studiengang für ein Stipendium der Studienstiftung des Deutschen Volkes. Vielleicht hast du ja eine Chance. Bei den meisten anderen, zum größten Teil parteinahen, Stiftungen zählt vor allem gesellschaftliches Engagement, aber dafür hast du keine Zeit. Bei der Studienstiftung des Deutschen Volkes zählt „nur“ die Leistung. Deine Noten sind gut bis sehr gut. Aber ausgerechnet in der Einführung in die Sprachwissenschaften ist es nur eine 2-. Das findet der Professor viel zu wenig. Du sagst, es könnte besser sein, wenn du dir dein Studium nicht komplett mit Nebenjobs finanzieren müsstest. „Dann hätten Sie lieber eine Ausbildung machen sollen.“ Damit hat sich die Sache erledigt.
Cut to November 2009:
Ein Restaurant in Puerto Barrios, an der Atlantikküste Guatemalas. Das ist der 12. Tag am Stück, an dem du heute als Kellner arbeitest, häufig weit mehr als 10 Stunden. Am Anfang waren es nur die Wochenenden und zwischendurch konntest du das machen, wozu du eigentlich den weiten Weg über den Atlantik gemacht hast: nichts – und dir darüber klar werden, was du eigentlich anfangen willst mit dieser Existenz. Du hattest ein paar Bücher gelesen und angefangen zu verstehen (jedenfalls glaubtest du das), warum alles angeblich so Erstrebenswerte in dieser Gesellschaft dir vorher schon suspekt gewesen war. Aber was dann machen in oder abseits von ihr? Kellnern in Guatemala kann’s jedenfalls nicht sein, besonders nicht für 30€ Wochenlohn. Also lieber doch nochmal studieren…
Cut to Juni 2005:
Du sitzt in der Mensa am Campus Griebnitzsee der Uni Potsdam. Verwaltungswissenschaften hast du hier letztes Jahr angefangen. Nicht weil du das wirklich wolltest, du wusstest einfach nicht, was du machen willst und mit deinem Abischnitt war die Auswahl nicht groß. Du bist ausnahmsweise mal nicht allein oder mit den zwei Kumpels aus deiner Heimat hier, die es dir gleichgemacht haben. Dieses Mal mit einer Kommilitonin, mit der zusammen du gerade einen Vortrag gehalten hast. Es sitzen noch ein paar andere Leute mit am Tisch, die sie kennt. Die Rede ist vom Klavierspielen und Plattensammlungen. Da kannst du nicht mitreden. 1,5 Jahre später wirst du das Studium aufgeben und dich in einigen Bereichen „im kulturellen Bereich“ ausprobieren. So richtig „funken“ tut es nirgends. Du müsstest mehr aus dir herauskommen. Und außerdem fühlt sich das auch alles unzulässig an. Kunst, Theater, Schreiben? Zumindest das Gute darunter ist doch nur absoluten Ausnahmetalenten vorbehalten, und wer bist du schon, dich selbst dazuzählen zu wollen?
Cut to Frühling 2004:
Es ist dein Abiball. Er findet in einer dafür gemieteten Großraumdiskothek in deiner Kleinstadt statt. Für die meisten sicher ein großer Tag. Du fühlst dich nicht sonderlich erhaben. Mit deinen Eltern und deiner Schwester kommst du etwas später an, als ihr das eigentlich getan hättet. Dein Vater als selbständiger Kraftfahrer hat nämlich die Bestuhlung herangefahren und ihm wurde dafür vom Veranstalter ein guter Platz zugesichert. Als ihr ankommt, hat aber schon eine andere Familie sich die Plätze gesichert. Die Reservierungsschilder hatten sie einfach ignoriert. Ihr wollt keine Szene machen. Viele Plätze sind jetzt nicht mehr übrig, nur noch in einem anderen Raum, sonst der zweite Floor. Das Geschehen auf der Bühne kann man hier auf einer Leinwand verfolgen.
Cut to eine Woche nach der Berlinale:
Du hast mittlerweile deinen ersten Text für die Schreibwerkstatt geschrieben. Es war ein ziemlicher Kampf, wie immer, wenn du etwas schreiben wolltest oder solltest. Am Ende warst du mit dem Ergebnis aber doch ganz zufrieden. Ein genauso schönes wie rares Gefühl. Jetzt sitzt du im Jobcenter und deine Vermittlerin sagt dir, wenn du nicht bald etwas findest, dann erwartet sie, dass du dich auch auf weniger interessante Stellen bewirbst: „Nicht als Putzkraft oder so, keine Sorge, irgendwas im Büro zum Beispiel.“
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P.S.: In dieser Woche werden unter anderem die Jobcenter bestreikt. Du hoffst, dass Verdi Erfolg hat – auch im Sinne deiner Vermittlerin.