Menü

Neonazi by Nature? Ostdeutsche Abstiegsgeschichte auf der Berlinale

Neonazi by Nature? Ostdeutsche Abstiegsgeschichte auf der Berlinale

Neonazi by Nature? Ostdeutsche Abstiegsgeschichte auf der Berlinale

von Lena Schubert

Ein einziges Mal wird in diesem Film getrauert. Und die Kamera ist ganz nah dran: Tobias’ Wangen glühen, als er seinen Schmerz in die Leere eines verlassenen Betriebsgebäudes brüllt. Zu DDR-Zeiten hat sein Opa hier gearbeitet. Doch jetzt ist er tot. Und niemand mehr ist für das Kind da. Die Eltern sind längst abwesend: Seine Mutter arbeitet Doppelschichten als Pflegekraft, weil der Vater seit der Kündigung trinkt. Und der große Bruder Philipp bandelt gerade beim Simson-Schrauben mit einem Neonazi an. Davor war auch Philipp schon in dieser Betriebsruine. Und hat Hassparolen geübt.

Mit der Faust in die Welt schlagen ist das Spielfilmdebüt von Constanze Klaue. Geduldig erzählt die Ostberliner Regisseurin vom Coming-of-Age im ländlichen Sachsen der 2000er. Ganz so schlecht fängt das im Film gar nicht an: Die Eltern haben ihre Jobs ins neue Jahrtausend gehievt, ein Eigenheim gebaut und sich in die deutsche Mittelschicht eingeklinkt. Die Abstiegsangst geht nur in Person des arbeitslosen Uwe um, einem ehemaligen Kollegen des Vaters, der hilft, die anfällige Elektrik des Hauses zu fixen. Das Technikversagen kündigt den Ausfall der Elterngeneration an. Bald gehen auch Klo und Spüle kaputt, dann wird das Auto Schrott. Ein neues ist nicht drin. Erst recht nicht, als der Vater gefeuert wird. Uwe ist da schon tot.

 

Während die Familie langsam absteigt, wird Philipp zum Täter: Erst schützt er eine Gruppe Neonazis vor der Polizei, dann sucht er ihre Nähe, schließlich begleitet er sie zu ihren Gewalttouren, desinfiziert ihre Wunden. Ähnliche Radikalisierungsbiografien werden in letzter Zeit immer öfter erzählt. Sie sollen Erklärungen liefern, warum der Rechtsextremismus in Ostdeutschland so erfolgreich ist – jetzt, kurz vor den vorgezogenen Neuwahlen, auch auf der großen Leinwand der Berlinale. Ausgerechnet am Schlusstag des Festivals werden blaue Balken bundesweit über Bildschirme jagen.

Die deutsche Einheit, eine Tragödie? Klaue deutet an, dass es auch Alternativen zum Drehbuch der Wiedervereinigung gegeben hätte. Als der Opa noch lebt, fährt er die Jungs für einen Ausflug in die Shoppingmall. Durchs Autofenster bewundert Tobias die Plattenbauten: „Wenn ich groß bin, will ich auch in einem Wolkenkratzer wohnen!“ Seine Träume sind offenbar noch unbeirrt von den vielen meist westdeutschen Krimiproduktionen der 2000er, in denen die „Platte“ zur Brennpunktkulisse umgewidmet wurde.

Das Kino hat die Nachwendezeit lange nicht ernst genommen, erst recht nicht als Prozess der Umschichtung. Gerade Kinderperspektiven auf Abstieg und Abwertung fehlten. Diese Lücke will Klaue mit ihrem Brüderpaar gleich doppelt füllen. Aber weil sie sich an die autofiktionale Romanvorlage von Lukas Rietzschel hält, verpasst sie die Chance, zwei wirklich unterschiedliche Szenarien zu erzählen. Denn auch der kleine Tobi steigt schließlich bei den Rechten ein. Als sei Radikalisierung ein ganz natürlicher Teil jeder ostdeutschen Nachwendepubertät.

Dabei ist Boy meets Neonazi nicht die einzige Möglichkeit, von der Nachwendezeit zu erzählen. Es gibt auch Biografien, in denen Deklassierung nicht zu Radikalisierung führte – sondern etwa zu einer Kritik am neoliberalen Triumph der 1990er. Dazu kommt, dass nicht nur Menschen wie Tobias, Philipp und ihre Eltern nach der Wende ihren Status verloren. Fast 200.000 Vertragsarbeiter:innen mussten um Job und Bleiberecht, aber auch um ihre Sicherheit fürchten. Angelika Nguyen dokumentierte diese Situation in Bruderland ist abgebrannt, Burhan Qurbani brachte 2014 den Terror von Rostock-Lichtenhagen ins Kino.

Constanze Klaue hingegen erzählt die Umschichtungsprozesse der Nachwendezeit ausschließlich als Verlusterfahrung weißer Männer. Wie der Titel des Films schon nahelegt, bleiben die Menschen, auf die Philipp und seine Freunde es abgesehen haben, unsichtbar, werden bis zum Schluss ausgeblendet. Da springt der Film ins Jahr 2015. Als auszubildender Elektriker kruschtelt Tobias im Sicherungskasten seiner alten Schule, damit bald Geflüchtete einziehen können. Plötzlich fährt das Auto eines Neonazis vor. Tobias grüßt, macht Feierabend, geht zum Jahrmarkt, gönnt sich eine Fahrt mit dem Riesenrad. Seine Gondel steigt auf, hell erleuchtet. Strom ist hier offensichtlich kein Problem mehr. Tobias hat seinen Platz gefunden. Ganz kurz ist er ganz oben. Hoch über der glühenden Landschaft. Unten brennt die Schule.