Unsere Rechnung geht nicht auf: Das Licht oder Mary Poppins of Color
Unsere Rechnung geht nicht auf: Das Licht oder Mary Poppins of Color
von Henrik Schnittger
Für die neue Berlinale-Intendantin Tricia Tuttle fängt Das Licht, der Eröffnungsfilm der 75. Ausgabe des größten deutschen Filmfestivals, „die Essenz unseres heutigen Lebens auf magische Weise auf der Leinwand ein.“ Zumindest aus Klassensicht stellt sich allerdings die Frage, wer mit diesem Wir gemeint ist.
Die Familie Engels, die Tom Tykwer uns zeigt, ist so dysfunktional wie schon zahllose Film- und Serienfamilien vor ihr – nicht zuletzt die Familie Banks aus dem Disney-Klassiker Mary Poppins. Auch in Das Licht kommt eine Haushaltshilfe mit besonderen Fähigkeiten in die Familie und leistet weit mehr, als die Wohnung sauber und die Kinder im Zaum zu halten.
Die neue Mary heißt Farrah und ist vor dem Krieg aus Syrien nach Berlin geflüchtet. Bei ihrer Anstellung scheinen auch höhere Mächte am Werk zu sein: Zum einen taucht das Gesuch der Engels auf dem Bildschirm ihrer Vermittlerin im Jobcenter auf, die ihr eigentlich beruflich vielversprechendere Stellen schmackhaft machen will. Und die Vakanz ist überhaupt erst entstanden, weil Farrahs Vorgängerin, die Polin Maja, scheinbar ihrem Schicksal folgend das Zeitliche gesegnet hat.
Zunächst springt sie dem Tod zwar dank der beherzten Bremsung eines LKW-Fahrers gerade noch von der Schippe, als sie unaufmerksam und in Eile eine Straße überqueren will. Als sei aber die Vorsehung nur mit dem Ort oder den äußeren Umständen nicht zufrieden gewesen, erliegt sie wenig später an ihrem Arbeitsplatz, also in der Engels-Wohnung, einem Herzinfarkt. Ihre letzte (Amts-)Handlung: einen Essenslieferanten mit dem eigenen Geld auszahlen, weil Besteller und Engels-Sohn Jon in seinem Zimmer mit einer VR-Brille ein Multiplayer-Spiel spielend weder von der Lieferung noch von ihrem Klopfen an seiner Zimmertür etwas mitbekommt. Diese letzte Begegnung scheint auch das Schicksal des Lieferanten zu besiegeln: Kaum dass er sich auf seinen Motorroller schwingt, wird er von besagtem LKW-Fahrer erfasst, der wohl auch seiner Bestimmung noch nachkommen musste. So löschen sich in einer Art klassenkannibalistischer Schicksalsrochade drei prekär Beschäftigte gegenseitig aus.
Farrah hingegen scheint keiner Klasse anzugehören. Jedenfalls deutet nichts an ihrem Verhalten, ihrer Kleidung und ihrer Bildung auf eine Differenz zur Familie Engels hin, wodurch die Klasse unsichtbar wird. Auch Geldprobleme scheinen sie trotz Jobcenter nicht zu plagen. Sie ist einfach eine syrische Geflüchtete mit psychotherapeutischer Ausbildung und Lichtmaschine und schafft es, die Familienmitglieder eins nach dem anderen von ihren für die gehobene Mittelschicht geradezu quälend typischen Neurosen zu befreien: Vater Tim will sich wieder als begehrenswerter Mann fühlen, Mutter Milena aus ihrer beengenden beruflichen Rolle ausbrechen, Sohn Jon mit seinem Crush zusammen sein und Tochter Frieda ihre sexuelle Blockade überwinden.
Nachdem die Leiden der Einzelnen kuriert sind, besteht der vorfinale Schritt darin, die Engels wieder zu einer Gemeinschaft zu formen. Denn das scheint Voraussetzung zu sein, damit Farrah ihren eigentlichen Plan in die Tat umsetzen kann: die Seelen ihrer eigenen Familie erlösen…
Auch ohne hier das Ende zu verraten, lässt sich feststellen: Wie Mary Poppins ist auch Das Licht nur auf den ersten Blick gesellschaftskritisch. Es mag fortschrittlich erscheinen, dass die Haushaltshilfe dieses Mal of Color ist, eine gute Ausbildung und sogar eine eigene Agenda hat. Das täuscht aber. Denn diese Eigenschaften erfüllen letztlich alle nur einen einzigen Zweck: das Gewissen von Tuttles Wir zu erleichtern, ohne die gesellschaftlichen Verhältnisse anzutasten.
Tuttles Wir, das ist der (selbst-)mitleidige Teil der sozial, kulturell und nicht zuletzt ökonomisch Privilegierten, zu denen sie, Tom Tykwer und Familie Engels zweifelsohne gehören. Sie wissen (oder ahnen zumindest), dass sie – wie Frieda als das verkörperte schlechte Gewissen es in einer flammenden Rede am Abendbrottisch der Engels emphatisch beklagt – trotz ihrer “richtigen” Moral viel mehr als die meisten Anteil an den Problemen dieser Welt haben. An den ungerechten Verhältnissen wollen sie aber nichts ändern, von denen profitieren sie schließlich viel zu sehr. Sie wollen nur ein möglichst reines Gewissen.
Als dieser Reinigungsvorgang tritt in Das Licht das Schicksal in Erscheinung: Die anfangs zumindest noch angedeuteten Klassenwidersprüche durch die prekär beschäftigten Figuren löschen sich, ganz ihrer Bestimmung folgend, gegenseitig aus, was nebenbei den Vorteil hat, dass niemand außer ihnen selbst Schuld an ihrer Misere ist, man kann Christian Lindner förmlich hören. Die so unschönen und belastenden Klassenunterschiede sind verschwunden, das bürgerliche Gewissen atmet auf.
An ihre Stelle tritt Farrah und muss als Repräsentantin der vor dem Krieg in Syrien Geflüchteten (oder allgemein der Fremden?) für eine geradezu perverse, gleichermaßen selbstglorifzierende wie rassistische Erlösungsfantasie herhalten. Ihre Heilung der bürgerlichen Wohlstandsneurosen der Engels ist nämlich Voraussetzung dafür, dass diese (engels-gleich, aha) wiederum ihre Kriegs- und Fluchttraumata heilen können. Die Botschaft: wenn ihr (Fremden) uns (Deutschen) zu Diensten seid, werden wir alle glücklich. Wieder ein schönes Nullsummenspiel, bei dem der strukturelle Rassismus ein erträglicheres Gesicht bekommt. Das Gewissen ist nun lupenrein – und die Welt exakt genauso wie vorher.
Wir aber, die wirklich Veränderung wollen, sollten uns nicht täuschen lassen: Das Wir der Engels, Tykwers und Tuttles ist nicht das unsere. Unsere Rechnung geht nicht auf.