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Vom Prestige-Trailer zum Status-Applaus: Die Berlinale aus Klassenperspektive

Vom Prestige-Trailer zum Status-Applaus: Die Berlinale aus Klassenperspektive

Vom Prestige-Trailer zum Status-Applaus: Die Berlinale aus Klassenperspektive (Kollektivtext)

Vor allen Filmen: Der Berlinale-Trailer

Bei Filmkritik denkt man (oder ich) irgendwie ganz natürlich an Rezensionen „klassischer“ Filme. Eben jene Filme, die im Programm des Festivals (etwa der Berlinale) aufgelistet sind und vielleicht noch irgendwelche Preise gewinnen können. Zugegebenermaßen entstand die Idee, über den Berlinale-Trailer zu schreiben, zunächst aus Spaß und ein bisschen Zynismus, weil mich die Musik ab der dritten Vorstellung ziemlich genervt hat (zu der komme ich später nochmal). Doch die Auseinandersetzung, was Film – mit Bezug auf Klassenfrage – istdarstellt und sein kann, lässt sich natürlich ebenso gut auf den Trailer übertragen. Er dient als Einführung in den Hauptfilm, darüber hinaus nimmt er jedoch auch immer eine repräsentative Rolle des Festivals ein. Die Frage, was der Trailer in der kurzen Zeitspanne von meist unter einer Minute eigentlich vermittelt, lässt sich also ernsthaft stellen.

Der Clip BERLINALE-Trailer/Opener (2002) von Uli M. Schueppel stimmt seit 23 Jahren 51 Sekunden lang auf jeden Film des Festivals ein. Im Jahr 2024 waren es innerhalb von 11 Tagen 998 Mal. Fast tausend Mal in knapp zwei Wochen also repräsentierte der Trailer die Berlinale, die laut Profil ein:

·      Ort der künstlerischen Auseinandersetzung und der Unterhaltung

·      Ort der interkulturellen Begegnung

·      Plattform kritischer filmischer Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Themen

sowie ein:

·      bedeutender Motor für Innovation und wichtiger Wirtschaftsfaktor

·      unverzichtbarer Handelsplatz und einiges mehr ist.

Wir sehen: ein wichtiger Film mit der großen Aufgabe, große Wörter zu vereinen (oder auch nicht). In der Presse gibt es für den vielgespielten Trailer bislang eher wenig Beachtung. Im Jahr 2005 wurde er in der TAZ erwähnt, aber eher als kurze Würdigung, und zum Großteil wurden bloß die Worte des Regisseurs wiedergegeben. Schade eigentlich. Dabei hat DER Film der Berlinale doch Wesentliches zu sagen.

Der Trailer beginnt mit zirkulierenden goldenen Bären. Diese bilden einen Globus, katapultieren dann als eine Art Teilchenelement durch den dunklen Äther bis hin zur großen Explosion – ein goldenes Feuerwerk. Die letzten Funken formen den Umriss des goldenen Bärs – ganz groß auf der Leinwand – und verschwinden hinter der Berlinale-Aufschrift, wieder golden natürlich. Am Anfang und Ende des Clips zu sehen sind die Logos von wichtigen Partnern. Im Geburtsjahr des Trailers waren es VW, L’Óreal und ZDF. In diesem Jahr zentral: Cupra, Armani Beauty und Mastercard. Cupra, ein Tochterunternehmen von SEAT, gehört dabei zum Volkswagenkonzern, und Armani Beauty ist wiederum Teil von L’Óreal. Da klingen Cupra und Armani Beauty wohl doch etwas exklusiver.

Begleitet wird das Ganze von einer parallel zur Explosion aufbauenden Musik. Schnelle Beats überlappen die zu Beginn ruhigen tropfenartigen Sounds. Kaskadenhaft steigt die Lautstärke; elektrisierender Klang bis zum Feuerwerk hin zur Auflösung. Tatsächlich sah ich ab und an im Saal freudiges Kopfwippen, eher bei älteren Zuschauenden, was meine Gereiztheit (oder Übermüdung) erweichte. In meinen Ohren klingt die Musik aber weiterhin – ich möchte die Arbeit der Komponisten nicht abwerten, doch angesichts des Alters des Trailers scheint mir diese Beobachtung wiederum in Ordnung zu sein – nach Fahrstuhlmusik, nur mit etwas mehr „Pep“ und Mystery. Eine Auffahrt zum filmischen Genusserlebnis.

Zurück zum Bild: Goldene Bären wirbeln vor schwarzem Hintergrund – Schwarz-gold, eine Farbkombination, die Rarität und Edles ausstrahlt. Die Bären, die einerseits Wahrzeichen der deutschen Hauptstadt sind, greifen im Kontext der Berlinale das Motiv des Filmpreises auf. Damit deuten sie implizit auf die Preisverleihung hin, die eine Auszeichnung des Herausragenden ist, also Inbegriff von Wettbewerb und Konkurrenz. 

Mit den Worten des Regisseurs bilden diese Bären einen „radiant planetary sphere […]. The (new) beginning of the Berlinale makes this planet – charged with films, fantasies and creativity – burst into a firework of ideas.“ Oder besteht dieser Planet der goldenen Bären nicht viel eher aus Preisträger*innen und sogenannten „Talenten“? Deren Genialität und Kreativität in ein Feuerwerk der Ideen ausbrechen und von den letzten Funken dieser neuen Schöpfung wir als Zuschauende uns dann berieseln lassen dürfen.

Daran anknüpfend eine zweite Lesart: In die dunkle Sphäre hinein werden die „Talente“/goldenen Bären geschleudert. Unter dem ungeheuren Beschleunigungsdruck – und Leistungsdruck, finanziellem Druck, medialem Druck und so weiter – können sie nicht anders als zu explodieren. Ein goldenes Feuerwerk. Die Internationalen Filmfestspiele Berlin gehen aus der Explosion hervor und profilieren sich mit der noch glühenden Asche, die einst Materie der Kreativität und Fantasien war.

Und weil es Spaß macht, noch eine weitere Lesart: Goldene Bären aufgefasst als materieller Wert – die Preise, die Arbeit und generell das gesamte Festivalkostenaufkommen. All das, finanziert mit Steuergeldern, Cupra und Co. wird im dunklen All – und nicht vergessen unter musikalischer Begleitung – einfach verschossen. 

Nalie

 

Privilegien beim Einlassstopp

Zwischen meinen beiden letzten Vorführungen an diesem Tag liegen nur fünf Minuten. Ich hetze vom Cinemaxx zum Bluemax Theater: Treppe runter, am Berlinale Palast vorbei, Treppe rauf. Als ich am Saal ankomme, wird gerade der Einlass beendet – das heißt warten auf den Nacheinlass, zum Glück gibt es einen. Fast gleichzeitig mit mir kommt ein älterer Herr an, auch mit Presse-Badge. Er will noch in den Saal laufen, die Einlasser*innen halten ihn auf, die Einführung zum Film soll nicht gestört werden. Als Person, die notorisch zu spät ist, fühle ich mit ihm. Aber dieses Gefühl hält nicht lange an. Er baut sich ganz dicht vor einer der jungen Einlasser*innen auf, versucht sich durchzudrängeln, echauffiert sich auf Englisch: Was das denn alles solle, er müsse jetzt in den Saal. Dass es einen Nacheinlass geben wird, scheint nicht bei ihm anzukommen. Nach und nach trödeln noch ein paar Leute ein, er redet weiter auf eine der Einlasser*innen ein. Ich mische mich ein, sage ihm, dass er nicht so mit ihnen reden soll, sie machen doch schließlich auch nur ihren Job, und so ist das nun mal leider, wenn man zu spät ist bei der Berlinale. Jetzt richtet sich seine Wut gegen mich: Ich hätte keine Ahnung, er kommt seit 34 Jahren zur Berlinale, das sei nicht normal. Eine andere Mitarbeiterin mischt sich auch noch ein, sie hat Bock auf Stress und ist gerade nicht im Dienst, sagt sie auf Deutsch zu mir. Das fällt auf fruchtbaren Boden, jetzt gerät er endgültig in Rage: „Do you know who I am? Do you even know who I am?“, fragt er, und klärt uns auf: „You are nobody! Don’t speak to me!“

Ich denke, das ist wie in einem schlechten Film, muss lachen und verpasse in der Aufregung, ihn zu fragen, wer er denn nun sei. Er kündigt an, sich über uns zu beschweren. Aber all das beeindruckt die jungen Einlasser*innen wenig. Eine von ihnen hat in der Zwischenzeit die Securities gerufen, die sich vor ihm aufbauen. Dann geht auch schon der Nacheinlass los, die Traube von Zuspätkommenden muss von den Einlasser*innen gemeinsam durch die Gänge zu den oberen Rängen des Bluemax geschleust werden. Die Securities vervollständigen unsere kleine Reisegruppe. Ich verabschiede mich von den Einlasser*innen, er schimpft leise vor sich hin, dann gehen wir ins Kino.

KK

 

Der Pressesaloon

Zu wem gehört das Pferd, das in der Ecke der Presselounge wartet? Mit seinen schwarzen Plastikaugen stumm über die Journalist:innen wacht, die hier an Einzeltischen Texte über die Berlinale-Filme tippen? Kam der Guardian aus London dahergaloppiert, ist der Tagesspiegel angetrabt? Oder gehört das Tier zur Grundausstattung des Berlinale-Palasts? Hier, im Geschoss unter dem Foyer, ist die Presselounge untergebracht, oder besser: der Presse-Saloon. Alles hier ist Western Style. Wer drucken will, muss an die Bar. Auf der Karte kein Whiskey, nur das Wlan-Passwort und Gratis-Kaffee. Schießereien gibt’s hier keine, Kritik ersetzt die Colts. Was auch fehlt, sind ein Rodeo-Ring und die Journalist:innen, die sich am Elektrostier festklammern. Es ist eben kein Freizeitpark. Sondern ein Raum, wo Programm zu Relevanz verarbeitet wird. Im schummrigen Dunkelgrün der Ausstattung verschwimmt der Unterschied zwischen Goldgräber- und Grabesstimmung. Niemand spricht. Alle krümmen sich über die Tastatur. Ein Bild wie in vielen Coffeeshops, hier verrutscht in das Setting des nordamerikanischen Westens. Also in eine Zeit, in der europäische Siedler:innen Nordamerika ausbeuteten, während der Widerstand der First Nations meist schon gebrochen war. Später kam diese Zeit ins Kino: Das Westerngenre machte Kolonialist:innen und Kapitalist:innen zu Held:innen. Der Saloon wurde eine Standard-Szenerie für ihre Verherrlichung. Jahrzehnte später, auf der Berlinale 2025, im Presse-Saloon, der Western-Lounge, dürfen Journalist:innen diese Rolle übernehmen. Keine*n scheint das zu stören, denn niemand will stören. 

LS

 

Erst das Fressen, dann das Klassenbewusstsein

Ziemlich hohe Verpflegungskosten rund um die Berlinale – zumindest für alle, die sich beruflich den ganzen Tag dort aufhalten. Was auch mit der Lage der Kinos zu tun hat: Außer den Kiezkinos alle an Nicht-Orten, an denen es nur ums Arbeiten, den Transit und den Konsum geht. Abgesehen von dieser Seelenlosigkeit ist es vielleicht nicht direkt ein Verpflegungsproblem. Auswahl gibt es am Potsdamer Platz und den anderen wichtigen Spielstätten ja schon, nur eben nicht günstig. Was wiederum auch nicht unbedingt ein Problem sein muss, wenn man für seine Arbeit im Berlinale-Kontext gut genug bezahlt wird. Doch wie sehr ist das (noch) der Fall? 

Und wäre es ein gutes oder ein schlechtes Zeichen, wenn es in Zukunft zumindest vergünstigte Verpflegung seitens der Berlinale gäbe? Immerhin gäbe es dann (beispielsweise in Form von Catering-Zelten) vielleicht Orte, an denen man miteinander in Kontakt treten und erkennen könnte, wie sehr sich die finanziellen Sorgen der zwar „kultivierteren“, aber prekär beschäftigten freien Journalist*innen und die der Kartenkontrolleur*innen und Sicherheitskräfte vielleicht doch ähneln. 

Oder würde so eine Lösung eher darauf hindeuten, dass das allgemeine Lohnniveau so sehr gesunken ist, dass es für eine renommierte Kulturinstitution nun sogar nötig ist, für die Grundbedürfnisse derer zu sorgen, die sie ermöglichen?

Das Nebeneinander von Arbeiter*innen verschiedener Zünfte und ihre ethnischen Differenzen: Je „intellektueller“ die Arbeit, desto weißer die Arbeiter*innen. Damit verbunden unterschiedliche kulturelle Status, aber wie groß sind die Verdienstunterschiede?

Popcorn gibt es nicht auf der Berlinale, jedenfalls nicht im Kinosaal. Hohe Kultur kann man nur konzentriert genießen.

HS

 

Bodenlose Filme, überquellende Mülleimer

Wie so oft fegt ein eisiger Wind am Potsdamer Platz, wo ich mich zwischen größtenteils leerstehenden Bürotürmen, behelfsmäßiger Container-Infrastruktur und jeder Menge Absperrgittern für eine Pressevorführung des Eröffnungsfilms der Berlinale anstelle. 

An diesem grauen Donnerstag, den 13., und dem darauffolgenden Freitag, 14. Februar 2025, soll sich das Bild noch durch überquellende Mülleimer vervollständigen: Die Berliner Stadtreinigung wird an diesen Tagen durch die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di bestreikt, langsam aber sicher bilden sich Berge aus To-Go Cups, Flaschen und Essensverpackungen um die nicht-entleerten Tonnen – ausgerechnet zur Berlinale! „Wir bedauern die Unannehmlichkeiten, die durch die Warnstreikmaßnahmen von ver.di entstehen“, verlautbart die BSR in einer Pressemitteilung. Als würden die BSR-Mitarbeiter*innen keine Gehaltserhöhung verdienen?

Ich komme aus der Vorstellung des politisch absolut bodenlosen Eröffnungsfilms zurück auf die Straße, etwas Schnee rieselt vom grauen Himmel, die Müllhaufen werden angezuckert. In den Nachrichten lese ich, dass eine Demonstration von ver.di in München zum Anlass der bundesweiten Streiks Ziel eines wahllosen Anschlags wurde. Ich weiß nicht wohin mit all der Trauer und Wut.

KK

 

Film und Generalstreik

Dann wird auch ein Warnstreik bei den Verkehrsbetrieben ausgerufen. Am 20. und 21. Februar fahren keine Busse, Trams und U-Bahnen. Diesmal entschuldigt sich auch die Berlinale per Mail bei den Besucher*innen. Die scheinen mit Uber und E-Scooter, Fahrrad und S-Bahn trotzdem gut angekommen zu sein: Die Kinosäle sind an diesen Tagen genauso gut besetzt wie sonst. Streik: Das ist einfach nur ein side character der Berlinale. Dabei ist es eine der wirksamsten politischen Strategien gegen neoliberale Sparpolitiken und die immer extremer werdende soziale Ungleichheit. Streiken sei sogar die wichtigste Taktik angesichts faschistischer Entwicklungen wie in den USA, sagt der Soziologe Andreas Kemper bei seiner Keynote zum Thema „Zurück zur Klassenfrage – Filmkultur und soziale Ungleichheit“. Auch deutsche Gewerkschaften sollten einen Generalstreik vorbereiten, für den Fall, dass sich die politische Situation auch hier weiter zuspitzt.

Welche Rolle Film in einem solchen Moment hat, das kann Andreas Kemper in der Kürze der Zeit nicht ausbuchstabieren. Wie könnten Filmbeschäftigte also zu einem Generalstreik beitragen? Einfach die Arbeit niederlegen? Oder Film zum Mittel des Streiks machen? Dafür gibt es jedenfalls Ansätze: Das feministische Kollektiv labournet.tv unterstützt Arbeitskämpfe weltweit schon lange mit Filmen. In den Workshops der Gruppe lernen Medienschaffende, Gewerkschafter*innen und Aktivist*innen, Film als solidarisches Medium für kämpfende Belegschaften zu nutzen: Beispielsweise, indem von einem Streik aus ein Mobilisierungs-Clip gedreht wird, der dann durch Chatgruppen und andere Verteiler an alle Kolleg*innen weitergeleitet werden kann, wie im Beispiel des Lieferdienstes Gorillas. Solche Streikvideos archiviert labournet.tv auch in einer Online-Mediathek – ebenso wie aufwändigere Produktionen von anderen Filmschaffenden, etwa zur „Verkehrswendestadt Wolfsburg“ und eigene Dokumentarfilme, zum Beispiel „Strategien gegen Rechts im Betrieb“. Auf der Berlinale würden diese Filme nicht laufen: Kein Kinomaterial. Gebrauchsästhetik. Propaganda. Politische Instrumentalisierung der Kunst. Und so weiter. Dabei hat Filmaktivismus sehr wohl eine Ästhetik: Auch hier werden Entscheidungen getroffen, wie gefilmt, geschnitten, erzählt wird. Meistens wird dabei strategisch entschieden. Das heißt aber nicht, dass es nicht ein ganzes Spektrum von Möglichkeiten gäbe, ein Streikvideo zu drehen. Deswegen sollten wir alle überlegen, wie wir einen Mobilisierungsfilm drehen würden. Denn auch Filmbeschäftigte und Interessierte könnten etwas beitragen, wenn es zum Generalstreik kommt. Die politische Lage spitzt sich jedenfalls auch in Deutschland im Stundentakt weiter zu. 

LS

 

Hier gibt es nichts zu sehen!

Berlinale goes Kiez: Bei der Q&A nach der Vorführung von Welcome Home Baby wird mit dem österreichischen Filmteam Englisch gesprochen – das ist inklusiver. Irgendwann meldet sich jemand und fragt, ob man wenigstens zwischendurch nicht auch einmal eine Frage auf Deutsch machen könnte. Nein, das geht leider nicht, sagt die Moderatorin. Aber wenn er eine Frage habe, könnte man sie übersetzen. Er sieht davon ab. 

Internationale Inklusion ist möglich, das gehört offensichtlich zum Selbstbild der Berlinale. An Bildungsinklusion hat wohl niemand gedacht, nicht einmal bei den Berlinale-Goes-Kiez-Vorführungen. Bei denen sollen Berlinale-Filme einem breiteren Berliner Publikum zugänglich gemacht werden. So breit dann aber wohl auch nicht.

Bei der gleichen Vorstellung gibt es teils sehr unterschiedliche Reaktionen auf das Geschehen auf der Leinwand. Auf der linken Hälfte mitunter ausgelassenes Gejohle und lautes Gelächter. Auf der rechten „kultiviertes“ Genießen und kritisches Beäugen. Ein interessantes Aufeinandertreffen doch recht unterschiedlicher Weisen des Kulturkonsums und eine gewisse Blindheit demgegenüber seitens der Veranstalter*innen. Aber wer hat für die Aufteilung nach Seiten gesorgt?

Dann das Q&A nach How to Be Normal and the Oddness of the Other World, einem Film, bei dem die psychische Erkrankung der 26-jährigen Protagonistin im Mittelpunkt steht, aber offensichtlich auch ihre reichlich sinnlose Arbeit, die sie durch ihren Vater in dessen Unternehmen bekommen hat, das wiederum kurz davor steht von einem globalen Konzern geschluckt zu werden. Auch der Mutter, die als Sprecherin immer reißerische Texte sprechen muss und „fürs Denken nicht bezahlt wird“, macht ihr Job ziemlich zu schaffen. Ausnahmslos alle Fragen aus dem Publikum konzentrieren sich auf das sensible Thema mentale Gesundheit und wie man seitens der Filmemacher*innen damit umgegangen ist. Keine Frage zur Darstellung der teils absurden Arbeitsbedingungen. Als bestünde zwischen dem einen und dem anderen kein Zusammenhang. 

HS

 

Die Schmink-Séparées

Die Arbeitsplätze in der Presselounge des Grand Hyatt Hotel sind voll belegt, so auch die beiden Schmink-Séparées in der hinteren Damen-Toilette. Abwechselnd werden Gesichter und Frisuren aufgefrischt, in Telefone gesprochen und auf Laptops getippt. Natürlich kann sich auch erleichtert werden, und hier im Grand Hyatt reichen die Wände glücklicherweise von der Decke bis zum Boden. Die Sphären der (Re-)Produktion vermischen sich auf ganz wunderbare Weise. Zwei Tage später, zurück im Klo. In den Schmink-Séparées liegt ein Zettel: „Hier bitte nicht arbeiten – Please do not work here“.

KK

 

Applaus Applaus Applaus! 

Letzte Szene, Abspann, Film zu Ende, Pressevorführung vorbei. Es wird geklatscht. Ich sitze im Kino, zwischen anderen Leuten mit Mastercard-Schlüsselband und Akkreditierung um den Hals und applaudiere nur zögerlich. Wen beklatschen wir denn? Das Filmteam ist nicht anwesend. Beklatschen wir uns, weil wir den Film durchgehalten haben? So weit ist es mit der Selbstgefälligkeit dann doch nicht (oder?!). Beklatschen wir die Filmvorführer*innen und die Leute, die am Eingang die Tickets gescannt haben? Wohl kaum. Die kriegen, wenn’s gut läuft, ein freundliches Hallo, werden aber in der Regel ignoriert.

Rhetorische Fragen beiseite, natürlich beklatschen wir den Film. Den Film als Film. Als Berlinale-Film. Und dadurch, dass im CinemaxX am Potsdamer Platz sonst nicht applaudiert wird, adelt sich der Berlinale-Beifall selbst und sagt: Dieser Film ist wichtig! Dieser Film ist Kunst! Dieser Film hat mit schnödem Unterhaltungskino à la (Achtung!) Marvel nichts zu tun! Egal, ob der Film nun unterhaltsam ist, oder nicht. Denn ein Berlinale-Film ist besonders – gesellschaftlich relevant, fordernd. Wird ein Genre wie z. B. Horror bedient, dann um etwas zu sagen. Nicht einfach so, zur Unterhaltung.

Diese Grenzziehung zwischen Kunst und angeblicher Anspruchslosigkeit, zwischen Avantgarde und Mainstream, zwischen Hochkultur und allem, was die Masse (stets vage definiert) mag, ist klassistisch. Die wertende Aufteilung von Filmen zieht die Klassenteilung der Gesellschaft nach und wertet „die anderen“, die Mainstreamfilme und alle, die sie schauen, ab. Dabei ist schon die Annahme falsch, Unterhaltungskino und intellektuelle Anspruchslosigkeit (was ist das überhaupt?) ließen sich der Arbeiterklasse (was ist das überhaupt?) zuordnen. Es ist (um ganz intellektuell Pierre Bourdieu zu bedienen) andersrum: Sobald die „unteren“ Klassen etwas gewinnen, ist es nicht mehr besonders. Die Bourgeoise, so Bourdieu, geht sofort auf Abstand. In diesem System wird alles, was der Arbeiterklasse zugeschrieben wird, automatisch abgewertet.

Darüber hinaus ist die Berlinale als Veranstaltung in sich geschlossen. Wer nicht die Muße, das filmgeschichtliche Wissen oder die „richtige“ Seherfahrung hat, wird nicht zur Berlinale kommen wollen. Diese Ausschlüsse sind von Klasse geprägt. Und sie stellen sich immer wieder selbst her – in einer kleinen Geste, wie dem Applaus und in größeren, besser erkennbaren Symbolen, wie den Absperrungen auf dem Potsdamer Platz, den Akkreditierungen und Einladungen, die nur manche bekommen.

Das Setting des Filmfestivals hebt sich also vom alltäglichen Kino ab und die Hürden teilzunehmen sind hoch. Dabei versteht sich die Berlinale – im Gegensatz zu Cannes oder Sundance, die sich vornehmlich an Industrie und Presse richten – als Publikumsfestival. Und paradoxerweise braucht es Festivals, weil viele der kleinen, experimentellen und sperrigen Filme sonst auf dem Markt keine Chance hätten. Ein Festival, das einen kapitalistischen Ausschluss ausgleichen will, schafft also einen neuen.

Das Problem ist am Ende nicht die Berlinale und auch nicht der Applaus, sondern das System, der künstlich erzeugte Platzmangel an der angeblichen Spitze.

TR

Kornelia Kugler, Theresa Rodewald, Henrik Schnittger, Lena Schubert, Nalie Schweizer