Weißgold, nicht Edelstahl
Weißgold, nicht Edelstahl
von Barbara Eder
Dies ist kein Wetterleuchten, es ist ein Blitzlichtgewitter auf umkämpftem Terrain.
Erst vor wenigen Minuten hat Tilda Swinton, diesjährige Preisträgerin des Goldenen Berlinale-Ehrenbären, sich im ersten Stock des Hotel Grand Hyatt am Marlene-Dietrich-Platz eingefunden. Das Foto-Shooting vor der Pressekonferenz findet im abgetrennten Bereich der Campari Press Lounge in einem Halbrund vor hellblauem Hintergrund statt, der Zugang dazu ist exklusiv. Kameras feuern aus allen Winkeln, Lichtstöße zucken durch den Raum. Ein Stimmengewirr aus Zurufen und Lächelkommandos dringt aus der Fotoreporterwolke, hinter dem Objektiv kämpft jede:r um den besten Schuss. Für die Dauer von zehn Minuten kommt es darauf an, im richtigen Moment abzudrücken. Dann wandern Myriaden von Bildern nahezu simultan ins Netz. Trotz ihrer digitalen Reproduzierbarkeit hat keine der an diesem Vormittag erzeugten Aufnahmen demokratisierendes Potenzial. Den hochglanzpolierten Images des gefeierten Stars fehlt die kumpelhafte Kollegialität eines Smartphone-Selfies, aufgenommen in jenen seltenen Momenten, welchen die Fans hinter der Absperrung vor dem Berlinale-Palast bei Schneefall und Kälte entgegenfiebern. Auf Getty Images, einer Online-Agentur mit Sitz in Seattle, kostet ein Bild des Ehrengastes in Abhängigkeit von Größe und Lizenzrechten bis zu 475 Euro. Die Person, die darauf zu sehen ist, huschte im Bruchteil einer Sekunde an mir vorüber und verschwand kurz darauf hinter der Kirschholztür des Pressekonferenzsaals. Das Lounge-Personal hatte Tilda Swinton aus der Reporterwolke heraus durch den schmalen Streifen einer reglementierten Übergangszone hindurch geschleust.
An diesem Vormittag stand ich nicht hinter der Kamera und war doch nahe dran. Viele, die ich kenne, hätten mich um diesen Augenblick beneidet. Einen momentlang schien Tilda Swinton, die entrückte Göttin mit dem platinblonden Undercut, zum Greifen nahe. Spätestens seit ihrer Rolle als “Orlando” in Sally Potters gleichnamiger Virginia-Woolf-Verfilmung ist sie zu einer Ikone des queeren Kinos geworden. Tilda, mit ihrem blassen Teint, der an Porzellan erinnert. Tilda, die in “Orlando” einen englischen Adeligen spielt, der sein Geschlecht wechseln kann und scheinbar alterslos durch die Jahrhunderte reist. Einige meiner Freund:innen haben Filmstills daraus mit Magneten an ihre WG-Kühlschränke geheftet und diesen Bildern damit einen besonderen Platz auf ihrem ganz privaten Schwarzen Brett gegeben. Es sind Frauen, die tagsüber pflegen, programmieren oder schreiben, Frauen, die andere Frauen begehren. Sie scheinen verliebt zu sein in eine englische Aristokratin, die im Film einen Aristokraten mimt – doch nicht nur das. Tilda Swintons Bild transportiert den unbewussten Wunsch, sich einem Ideal anzuverwandeln, das für Frauen und Queers aus der Arbeiter:innen- und Armutsklasse uneinholbar bleibt. Ihr Image wird nicht nur begehrt, es evoziert auch tückische Identifikationen.
Am Eröffnungsabend der 75. Berlinale trug Tilda Swinton ein maßgeschneidertes Abendkleid der Haute-Couture. Vage erinnerte es an die aristokratische Uniform in “Orlando”, der Rüschenkragen hochgestellt, die Knopfreihe im Vergleich zum Original leicht nach links versetzt. Der geschlossene Schnitt aus dunklem Stoff erweckte Anklänge an die Hofmode des viktorianischen Zeitalters, die opulenten Knöpfe schimmerten wie Edelsteine. Allein mit den perlen-, kristall- und federbestickten Rüschen dieses Kleides waren Näher:innen ganze 345 Arbeitsstunden beschäftigt. Im Berlinale-Palast dozierte seine Trägerin, eine schwarze Ledermappe in den Händen, mit erhobenem Finger und aufrechtem Blick. Der Gestus aristokratischer Erhabenheit setzte sich im Pathos ihrer Worte fort. Hier sprach, so Oscar-Preisträger Edward Berger in seiner Laudatio, kein Mensch, sondern eine “außergewöhnlich schöne Seele”.
Auf der Bühne bezeichnete Tilda Swinton das Kino als “großen, unabhängigen Staat”. In einer Welt, die im Finstern liege, möge dessen “Licht” besonders hell scheinen.
Das von Swinton imaginierte Territorium kennt weder Zugangsbeschränkungen noch Einwanderungsbestimmungen und künde doch souverän von “Geschichte, Erbe und gewachsener Kultur”. Es sei unempfänglich gegenüber Besetzung oder “der Entwicklung von Riviera-Grundstücks-Landbesitz” – eine Anspielung auf Donald Trump, der wenige Tage zuvor angekündigt hatte, aus dem Gaza-Streifen einen Urlaubsort für amerikanische Tourist:innen machen zu wollen. Übertragen wurden Swintons Worte bis in die hintersten Reihen der Uber Eats Music Hall in Berlin-Friedrichshain. “Hier war für mich ein Zuhause”, hörte man sie über den riesigen LEDBildschirm vor mehr als 2.000 Personen sagen. Am Uber-Platz mit Uber Arena und UBahnausgang direkt dorthin.
Tilda Swinton kam nicht nur als Ehrengast zur Berlinale, sie war auch als Chanel-Botschafterin präsent. Als solche vertritt man kein Land, sondern eine Luxusmarke. Dafür benötigt man zwar kein Visum, aber eine Visa-Card. In dem von Swinton performativ proklamierten Staat der Lichtbildnerei kämen internationale Sponsoren dieser Art offenbar auch für die Appartements der Stars und Sternchen auf, vielleicht sogar die im Berlinale-Trailer prominent genannten, darunter Armani, Cupra und Mastercard. Bei der Pressekonferenz zu ihrer Haltung gegenüber der BDS-Bewegung – die Abkürzung steht für Boycott, Divestment and Sanctions – befragt, äußerte sich Swinton indes zugunsten des Banns der israelischen unter ihnen: “Ich bin eine große Bewunderin und habe großen Respekt für BDS. Ich denke viel darüber nach.”
Nicht über Klasse, über Sanktionen gegenüber Nationen hat Tilda Swinton bei der Pressekonferenz gesprochen. Und als Britin offenbar ausgeblendet, dass man in Deutschland schon einmal nicht mehr bei Juden kauften sollte. Um nicht über die grassierende Armut und Wohnungslosigkeit in einer Stadt zu sprechen, die einmal “Reichshauptstadt” gewesen ist, und nicht von sozialer Ungleichheit, Lohnunterschieden und möglichen Millionärssteuern. Auch deshalb sprach Swinton über eine Krieg führende Nation im Nahen Osten. Und nicht darüber, was das absehbare Wahlergebnis vor Ort mit dem Verlust eines Klassenbewusstseins zu tun haben könnte, das Arbeitenden und Armen noch im letzten Jahrhundert zu politischer Handlungsmacht verhalf. Swinton, Spross des schottischen Adels, sprach ganz bewusst nicht darüber. Denn sie steht dafür – ex negativo: Im Zuhause einer Chanel-Botschafterin gibt es Glamour statt Klassenkampf; der dazugehörige Habitus verdankt sich einem Geburtsprivileg, das man wortlos zu kultivieren gelernt hat.
“Die Aura ist die Erscheinung einer Ferne, so nah sie auch sein mag”, heißt es an einer Stelle des Kunstwerk-Aufsatzes von Walter Benjamin. Die Erscheinung dieser Ferne ist mir am Eröffnungsabend der 75. Berlinale zu nahe gekommen. Jede Annäherung daran bringt meine Position zum Verschwinden, löst mich auf im falschen Ideal. Heterosexuell und verheiratet, legt Tilda Swinton keine Kanülen in Venen und arbeitet nicht im Supermarkt. Ihre Arbeit ist die der Selbstinszenierung, die Rede Teil eines Vermarktungskonzepts. Durch Class-Drag mit queeren Elementen scheint Swinton sich dennoch immer wieder mit der Arbeiter:innenklasse gemein machen zu wollen – im Rahmen eines postmodernen Spiels, das die dazugehörigen Codes in avantgardistischen Kontexten neu arrangiert. Der schwarze Army-Parka, getragen am Tag der Pressekonferenz, steht ihr ebenso gut wie das Chanel-Kostüm mit kristallbestickten Rüschen: Am Morgen androgyner Edelpunk, am Abend Arthouse-Avantgarde mit Piercing im Ohrknorpel. Nicht aus Edelstahl, aus Weißgold.