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That Summer in Paris

That Summer in Paris

That Summer in Paris

von SHH

Das Langfilmdebüt der französischen Regisseurin Valentine Cadic Le rendez-vous de l’été spielt 2024 in Paris. Die Olympischen Sommerspiele sind in vollem Gange und verwandeln die Stadt in eine riesige Partymeile. An jeder Straßenecke sind große Bildschirme aufgestellt, vor denen sich Massen tummeln, um die Wettkämpfe live zu verfolgen. Es wird getanzt, getrunken und geredet. Die Originalaufnahmen zeigen, wie überall in Paris Menschen miteinander in Kontakt treten. An sich keine ungewöhnliche Szenerie für einen Austragungsort der Olympischen Spiele. Warum fühlt sich diese Ausgelassenheit dann sogar aus der sicheren Distanz des Kinosessels so befremdlich an?

Wahrscheinlich weil diese Großveranstaltung die strikten Kontaktbeschränkungen der Corona-Pandemie wie einen Fiebertraum wirken lässt. 2020 musste der turnusmäßige Vier-Jahres-Rhythmus der Spiele – erstmals ohne dass ein Weltkrieg dafür die Ursache war – unterbrochen werden. 2021 wurden die Spiele dann in Tokyo nachgeholt, allerdings ohne Zuschauer*innen. Mit der Installation von Soundsystemen, die Publikumsreaktionen aus vergangenen Wettkämpfen abspielten, wurde versucht, die Sportler*innen in Stimmung zu versetzen. Tokyo 2021, das waren wohl die einsamsten Spiele seit ihrer Entstehung. Mit dem Sommer in Paris 2024 laufen die Spiele wieder in ihrem gewohnten Takt und sie scheinen das Ende der Corona-Pandemie endgültig zu besiegeln.

Damit findet That Summer in Paris, so der englische Titel dieses Films, das perfekte Setting für sein Leitmotiv: die Spannung zwischen Gemeinschaft und Alleinsein. Die frisch getrennte Blandine (Blandine Madec) trägt eine Festigkeit im Alleinsein in sich, die sich kontrastreich von dem Hintergrund des trubeligen Paris im Olympia-Fieber abhebt und dadurch umso stärker ins Auge fällt. Der Tradition des französischen Autorenkinos folgend, entfaltet sich das Sujet weniger über die Handlung als über die schrittweise Annäherung an die innere Welt der Protagonistin.

Blandine lebt als Klavierlehrerin in einem Küstendorf in der Normandie. Sie kommt allein nach Paris, um ihr Idol, die französische Schwimmerin Beryl zu sehen. Gleichzeitig möchte sie ihre Halbschwester Julie (India Hair) und deren Tochter Alma (Lou Deleuze) besuchen. Etwas verloren in der großen Stadt, geht der erste Plan nicht auf. Zu ihrer Schwester kommt sie dann aber schneller als erhofft – jedoch abermals unplanmäßig.

Es ist ihr Geburtstag. Der Rezeptionist ihrer Unterkunft gratuliert ihr und richtet ihr im selben Atemzug aus, dass sie die Nacht leider wo anders verbringen müsse. Für das Jugendhostel sei sie mit nun dreißig Jahren zu alt. Die introvertierte Blandine beschwert sich nicht, aber setzt auch klare Grenzen. Nein, eine positive Bewertung werde sie nicht dalassen. Szenen wie diese werden mit einem bittersüßen Humor erzählt, der Blandines komplexen Charakter mit Leichtigkeit einfängt.

Blandine kommt bei ihrer Schwester unter und lernt deren stressiges Leben als getrennt lebende Mutter mit Home-Office-Job kennen. Julie wirkt rastlos. Auf der Suche nach Nähe macht sie Online-Dating und fängt kurz etwas mit ihrem Ex-Freund Paul (Matthias Jacquin), dem Vater ihrer Tochter, an, um daraufhin in eine emotionale Krise zu stürzen. Im direkten Vergleich dazu wirkt Blandine ausgeglichen. Mit einem klaren Blick auf ihre emotionale Welt entscheidet sie sich anscheinend sehr bewusst dafür, allein zu leben. Es ist berührend, wie sie ihrer neunjährigen Nichte ganz selbstverständlich und auf Augenhöhe ihren Lebensentwurf erklärt. Sie möchte ihr Leben nicht mit einem Partner oder einer Partnerin teilen und auch keine Kinder haben – das passe nicht zu ihr.

Ob Blandine damit wirklich das Lebenskonzept gefunden hat, das sie auf lange Zeit glücklich machen wird, bleibt offen. Für den Moment wirkt es jedenfalls so, als sei sie mit sich und dieser Entscheidung im Reinen. Die Frage danach, wie viel Alleinsein und wie viel Gemeinschaft guttun, scheint sie für sich zufriedenstellend beantwortet zu haben.

Mit dieser Zufriedenheit ist Blandine vielleicht eine Ausnahme, aber die Frage nach der richtigen Gestaltung der sozialen Beziehungen und nach dem dazu passenden Lebenskonzepten ist heute allgegenwärtig und die Regel. Verstärkt durch die Corona-Pandemie herrscht zu großen Teilen eine Orientierungslosigkeit in der Passung zwischen Alleinsein und Gemeinschaft. „Wie soll ich leben?“ Diese Frage geistert im durch neoliberale Glücksvorstellungen geprägten Bewusstsein permanent umher. Jede*r für sich versucht die individuell richtige Antwort zu finden.

Während uns der Film Blandine behutsam immer näherkommen lässt, trifft er einen der Post-Covid-Nerven. Er hinterlässt dann einen Stich, vielleicht auch nur einen kleinen Piekser. Wenn man diesem jedoch nachspürt, fängt es an, ziemlich stark zu schmerzen. Warum lautet die Frage allzuoft „Wie soll ich leben?“ und nur selten „Wie wollen wir leben?“ Die individuelle Entscheidung für mehr Alleinsein ist vollends zu respektieren. Allerdings bleibt offen, wie viel Gemeinschaft die bürgerliche Gesellschaft überhaupt zulässt – in welchem Möglichkeitsrahmen diese Entscheidung also getroffen werden muss. Der Film zeigt viele kleine schöne, ehrliche und menschliche Begegnungen, aber gibt keine Perspektive auf eine Gemeinschaft jenseits von Julies verzweifelter Suche nach romantischen Beziehungen und der Olympischen Spiele, deren Gemeinschaftserlebnis ein seltsamer Konsumcharakter anheftet.

Aus einer Klassenperspektive gesprochen, würde ich mir mehr Filme wünschen, die über das reine Abbild der jetzigen Zeit des großen Nebeneinanders hinausgehen und kollektive Ansätze ausprobieren. Ich brenne für die Frage, wie wir Lebenskonzepte aushandeln würden, wenn die Kategorie Klasse stärker als Identifikations- und Organisationsmöglickeit verfügbar wäre. Wahrscheinlich würden sich Alleinsein und Gemeinschaft ganz anders verhandeln lassen als in Le rendez-vous de l’été.