Stockholm-Syndrom der Massen: Gefangen im Wealth Gaze
Stockholm-Syndrom der Massen: Gefangen im Wealth Gaze
Eine viel zu teure Wohnung über den Dächern von Paris, Jugendliche in Outfits, die sich Normalsterbliche nie leisten könnten – von Emily in Paris bis Euphoria: Willkommen im Zeitalter des Wealth Gaze. Unsere Sehgewohnheiten orientieren sich an den obersten ein Prozent, nicht an der Lebensrealität der Mehrheit. Reichtum wird zur medialen Norm.
In den 80ern und 90ern gab es natürlich den Denver Clan oder 90210, aber auch Roseanne oder King of Queens. Heute dominieren Formate, die Wohlstand zelebrieren. Weniger Hör mal, wer da hämmert, mehr Selling Sunset. Welche Auswirkungen hat diese verzerrte Perspektive auf unser Klassenverständnis? Scheitern soziale Fragen an der Omnipräsenz des Wealth Gaze in Film und Fernsehen?
Hollywood voller Luxusinzest
„Filmemachen können sich nur Hedgefonds-Babys leisten oder Menschen, die mit Arbeitslosigkeit klarkommen“, lauteten die aufmunternden Worte einer Dozentin in einem Dokumentarfilm-Kurs, den ich belegte. Den konnte ich mir nur durch ein Stipendium leisten – als Einzige. Die Botschaft war klar: Entweder hast du ein Erbe oder du lebst prekär.
Ob Journalismus, Literatur oder Film – die Strukturen sind undemokratisch. Sozialdarwinistisch. Zumindest für diejenigen ohne ein Auffangnetz. Das führt zu einem Ungleichgewicht in der Szene, zu fehlenden Perspektiven. Wenn immer nur ein kleiner Teil über Dialoge und Kameraeinstellungen brütet, verzerrt es die Filme und Serien, die wir sehen.
Es geht nicht nur um das Geld auf dem Bankkonto, sondern auch um das restliche Kapital: vor allem das Soziale. Wer aus wohlhabendem Elternhaus stammt, hat leichteren Zugang zu Ressourcen und Netzwerken. Kapital heißt Unabhängigkeit, Kontrolle über die eigene künstlerische Vision.
Menschen, die ohne finanzielle Sicherheit aufwachsen, wagen seltener kreative Karrieren. Wer arbeiten muss, um zu überleben, kann sich unbezahlte Praktika nicht leisten – und genau dort beginnen viele Karrieren in der Medienwelt.
Doch Film ist eine Ware. Hollywood produziert, was Profit bringt. Neue Erzählungen, outside the box-Denken, wollen sich die Big Player nicht leisten. Sie setzen auf das Gewohnte und Altbewährte. Nepo-Babys, intergenerationaler Reichtum und immer wieder das gleiche Spiel. Alles, was nicht in diese Formel passt, wird zu DIY-Low-Production-Werken, die dann nur vom selbsternannten Bildungsprekariat angeschaut werden.
Prunk als Sehpenetranz
Medien formen unsere Wahrnehmung. Die Omnipräsenz von Wohlstand führt zu einer Verfestigung von Wohlstandsnormen – und einem unrealistischen Bild sozialer Mobilität. Zuschauende internalisieren diese Bilder.
Nicht umsonst wurde The Wolf of Wall Street von vielen nicht als Kapitalismuskritik, sondern als Motivationsfilm verstanden. Eigentlich als abschreckendes Beispiel gedacht, wurde Jordan Belfort zum Idol. Moral? Nebensache. Dasselbe Muster zeigt sich bei Bruce Wayne aka Batman: Ein Milliardär, der sich nicht mit strukturellen Problemen beschäftigt, sondern Kriminellen in den Hintern tritt. Seine Lösung für ein marodes System? Mehr Gewalt. Dabei ist er selbst Teil des Problems: der reichste Mann der Welt. Wir als Zuschauende sollen uns mit diesem Milliardärssohn identifizieren.
Nicht nur Luxusfetisch, sondern auch Betrugsgeschichten boomen: The Dropout, The Social Network, aber auch Dokus wie Fyre: The Greatest Party That Never Happened oder The Tinder Swindler. Unmoralische reale Geschehnisse werden unterhaltsam nacherzählt, etwa in Hustlers oder der Serie Inventing Anna. Eine kritische Haltung gegenüber diesen Ausbeutungspornos? Fehlanzeige. Selbst in Satiren, wie American Psycho oder White Lotus, bleibt der Reichtum ästhetisch ansprechend. Ist das wirklich noch Kritik oder längst Faszination?
Michael Douglas erzählte in der Dan Patrick Show, dass Menschen nach seiner Rolle als Gordon Gekko in Wall Street auf ihn zukamen und ihm sagten, der Film habe sie motiviert, Broker zu werden. Irritiert stellte Douglas klar: „Aber ich war der Bösewicht! Gekko landet im Gefängnis!“ Das störte die Fans offenbar nicht.
Filme und Serien prägen unsere Wahrnehmung von Erfolg, Macht und Moral. Wenn korrupte Charaktere triumphieren oder Regelbrecher als bewundernswert dargestellt werden, vermittelt das unterschwellig die Botschaft, dass Integrität naiv sei. Wer sich an Spielregeln hält, wirkt im Vergleich geradezu dumm; all jene, die keinen Broker privat kennen, entwickeln dadurch unbewusst eine zynische Weltsicht.
Abtauchen, aber nicht zu tief
Serien über die Reichen verstärken Materialismus und Konsumdruck. Laut Studien beeinflusst das Schauen von Luxusserien das Kaufverhalten: Zuschauer identifizieren sich stärker mit Marken und teuren Produkten. Der Ökonom Till van Treeck geht noch weiter: Wohlstandsanbetung und der Versuch, mitzuhalten, hätten zur Überschuldung beigetragen – und zur Finanzkrise.
Medienkritiker Douglas Kellner warnt, dass solche Narrative nicht nur den Konsum, sondern auch soziale Ignoranz fördern. Von Gossip Girl bis Euphoria – ihre Mode dominiert, ihre Realität bleibt eine Fantasie. bell hooks brachte es auf den Punkt: Medien suggerieren, dass wir gleich sind, solange wir das Gleiche kaufen. Doch Konsum ist kein Gleichmacher. Außerdem können wir uns sowieso nicht das Gleiche leisten.
Die Auswirkung auf unsere Vorstellung von Arbeit und Erfolg ist ebenso fatal. Der Wealth Gaze erweckt den Eindruck, Erfolg sei eine Frage der richtigen Einstellung, des persönlichen Hustles. Wer es nicht schafft, hat sich eben nicht genug angestrengt. Die strukturellen Hürden? Unsichtbar. Wir konsumieren den Lifestyle der Reichen, ohne die Systemkritik zu leisten, die notwendig wäre, um zu verstehen, warum wir diesen Lifestyle selbst nie erreichen werden.
Die Zuschauenden bleiben im Stockholm-Syndrom der sozialen Klassen gefangen, überzeugt davon, dass sie vom Tellerwäscher zum Millionär aufsteigen können. Ihre eigene Existenz erscheint ihnen nur als Durchgangsstation, ein temporärer Halt auf dem Weg zum vermeintlichen Erfolg. Der Traum von Reichtum wird zur Falle, die sie in einem endlosen Streben nach Illusionen hält.
Armsein ist monochrom!
Reichtum wurde schon immer zelebriert, während Geschichten über die Arbeiter*innenklasse oft in Schwere und Ernsthaftigkeit versinken. Sie kreisen fast ausschließlich um harte Arbeit oder finanzielle Sorgen – als wäre das ihre einzige Lebensrealität. In The Bear steht der Druck der Restaurantküche im Mittelpunkt, Die Discounter zeigt den chaotischen Alltag im Supermarkt. Doch wo bleiben die Geschichten, in denen Working-Class-Charaktere einfach leben dürfen? In denen sie Träume verfolgen, Abenteuer erleben, Spaß haben, ohne dass ihre Klasse ihr gesamtes Dasein definiert? Während Reiche in Serien scheinbar mühelos durch ihr Leben gleiten, wird Armut fast immer als Kampf inszeniert – als gäbe es dazwischen nichts.
Zugegeben: Armut überschattet alle Aspekte des Lebens. Es ist die Realität für viele – aber nicht die ganze. Und genau das macht die Darstellung so einseitig: Menschen aus der Arbeiter*innenklasse existieren nicht nur im Kontext von Arbeit oder Überlebenskampf. Sie verlieben sich, erleben Höhen und Tiefen, haben Leidenschaften, Humor, Glücksmomente. Doch in Filmen und Serien bleibt oft nur das eine Bild hängen: Kampf, Schweiß, Verzicht oder eben die andere Richtung: die Romantisierung der Armut. Der Hustle wird zelebriert. Es wäre nicht nur gerechter, sondern auch erfrischender, Geschichten zu sehen, die das ganze Leben abbilden – und nicht nur den Kampf um den nächsten Gehaltsscheck.
Ist es verklärt, durch Film und Fernsehen eine Klassensensibilisierung zu erhoffen? Eigentlich sollten wir alle Streaming-Anbieter, die uns faul und träge machen, löschen und rausgehen, politisch sein. Weniger Couch und Streaming statt Straße und Protest.
Systemkritik, but make it sexy
Filme und Serien haben keine Pflicht zur Weltverbesserung – aber sie beeinflussen unser Denken. Und genau hier liegt die Verantwortung, aber auch die Chance: Warum nicht Eskapismus nutzen, um neue Utopien zu erzählen? Warum nicht Geschichten über Klassenfragen mit der Leichtigkeit inszenieren, die bisher dem Reichtum vorbehalten ist? Parasite oder Triangle of Sadness zeigen, dass Kapitalismuskritik nicht trocken oder belehrend sein muss, sondern auch unterhaltend sein kann − Infotainment Style.
Die Balance macht den Unterschied: Eskapismus darf sein – aber nicht das Einzige bleiben. Solange unsere Bildschirme von Superreichen bevölkert sind, bleibt die Realität unsichtbar. Dabei brauchen wir genau das Gegenteil: Geschichten, die eine Welt zeigen, in der ein gutes Leben nicht nur vom Geburtsglück abhängt. Keine Klassenfantasien, sondern echte Möglichkeiten für alle.
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Ciani-Sophia Hoeder schreibt über soziale Klasse, Macht und Popkultur. Sie gründete RosaMag, gewann den Goldenen Blogger und wurde zu den „30 unter 30“ gewählt. Nach Wut & Böse (2021) erschien 2024 Vom Tellerwäscher zum Tellerwäscher – eine Abrechnung mit dem Mythos sozialer Aufstieg. Aktuell brütet sie über Buch Nummer drei.
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Quellen:
Interview mit Michael Douglas: https://www.youtube.com/watch?v=I8ruk8wjhuQ
Der Ökonom Till van Treeck wird hier zitiert: https://www.manager-magazin.de/unternehmen/artikel/soziale-ungleichheit-schadet-zu-viel-reichtum-der-demokratie-a-1061106.html
Douglas Kellner: Media Culture: Cultural Studies, Identity and Politics Between the Modern and the Postmodern
bell hooks: Where We Stand: Class Matters