Filmprogramm der Woche der Kritik 2023 ist komplett
Das Filmprogramm der Woche der Kritik 2023 ist komplett
Regisseure, die sich in die Geschichte einmischen. Filme, die sachte das Bewusstsein umwälzen. Sorge und Fürsorge, die sich in Bilder und Klänge übersetzen. Kameras, die das städtische Leben ausloten. Pop und Politik im Spiegel von Männerkörpern. Das Filmprogramm der Woche der Kritik 2023 ist komplett.
Eine besonders intensive Debatte erwarten wir dieses Jahr zu unserem Programm Reaction Shot, bei dem Filme aufeinandertreffen, die die Verwicklung ihrer Macher in die jüngere Geschichte ausstellen. Im Essayfilm Solmatalua verbindet Rodrigo Ribeiro-Andrade Bilder der Schwarzen Diaspora mit Naturgeräuschen, religiösen Gesängen, Gedichten, populärer Musik und den Stimmen brasilianischer, antirassistischer Kämpfer. Der junge Regisseur Vadim Kostrov hat sich mit seinem impressionistischen, kontemplativen Kino und seinen Bildern der russischen Jugend in den letzten Jahren zu einem gefragten Gast auf Filmfestivals entwickelt. In Still Free zeigt er das junge Paar Kostya und Katya beim sommerlichen Besuch am Badesee – ein letzter unbeschwerter Moment, kurz bevor Kostya sich dem russischen Militär anschließt. Der Filmemacher und Aktivist Masao Adachi zählt aufgrund seiner zentralen Rollen bei der Japanischen Roten Armee und der PFLP zu den kontroversen Stimmen des Gegenwartskinos. Das Attentat auf den ehemaligen japanischen Premierminister Shinzō Abe nahm er zum Anlass für seinen neuen Film Revolution+1, in dem er anhand des Attentäters einen ideologischen Angriff auf die japanische Gesellschaftsordnung formuliert. Das Publikum nimmt er dabei ausdrücklich in die Pflicht, sich moralisch wie politisch zu seinem Film zu positionieren.
Ein Film, der direkt ins Bewusstsein eindringt, und eine Sekte, die diesen behütet, stehen im Zentrum von The Film to Come von Raúl Ruiz, der diesen im Rahmen einer Reihe zum 50-jährigen Jubiläum des Filmfestivals in Locarno drehte. Seine cinephile Zukunftsbeschwörung eröffnet das diesjährige Abschlussprogramm der Woche der Kritik: Unter dem Titel Softly Surreal zeigen und debattieren wir Filme, die mühelos eine Verbindung von Zärtlichkeit und formalem Erfindungsreichtum bis hin zur Radikalität herstellen. Manaka Nagais Moon Night begleitet eine junge Frau nach Feierabend beim Ausbruch aus ihrer Wohnung: ein Hemd von der Wäscheleine trägt sie zum Mond und dabei das Magische mitten ins Alltägliche hinein. Die lose verbundenen Szenen von Smog in your Heart hebeln die Regeln des narrativen Kinos dann ganz aus. Lucía Seles startet mit einem flirrenden Rausch von schnellen Schnitten in die Irrungen und Wirrungen der Verwaltung eines Tennisplatzes. Im ersten Teil einer Trilogie, die mittlerweile bereits aus vier Teilen besteht, gelingt ihr nicht weniger als die Neuerfindung der absurden Komödie.
Anknüpfend an unsere Eröffnungskonferenz Cinema of Care – Wer kümmert sich um das Kino? am 15. Februar diskutieren wir am 17. Februar unter dem Titel Aesthetics of Care auch im Kino zu Fragen der Sorge und Fürsorge in der Filmästhetik. Die Mitglieder der kollektiven Künstlerischen Leitung der Woche der Kritik Amos Borchert, Elena Friedrich, Petra Palmer und Dennis Vetter haben ein Programm aus vier Filmen kuratiert, die einen Bogen durch unterschiedliche Stilformen spannen. Nach der Projektion befragen wir die Regisseur*innen zu ihren Methoden und nicht zuletzt zu ihren Perspektiven auf Feminismus und Kapitalismus. Die Künstlerin Elke Marhöfer drehte mehrere Filme, in denen die Welt und ihre Ökosysteme jenseits des Menschen erfahrbar werden, etwa ihren Kurzfilm prendas – ngangas – enquisos – machines {each part welcomes the other without saying}, in dem Menschen nur Randerscheinungen sind. Eva Giolo montiert in The Demands of Ordinary Devotion Rituale des Alltäglichen: Angetrieben vom Sound einer Brustpumpe entwirft ihr Film eine Choreografie zu Arbeit, Körper, Objekten und Natur, immer wieder zusammengehalten von Händen, die ordnen, sorgen, fixieren. Brieuc Schieb zeigt mit Koban Louzou in entwaffnenden Digitalbildern eine Gruppe von Menschen beim Zusammenleben auf einem Bauernhof. Unter der Fuchtel eines launigen Patriarchen (Virgil Vernier) halten sich Spannungen und Freundschaften die Waage, bis am Ende alles entgleist. Den Abend schließt der träumerische Kurzfilm Dawn von Leonor Noivo über die unmerkliche Transformation einer Mutter zum Fisch.
Eine der eindrucksvollsten Arbeiten der Filmemacherin und Fotografin Sharon Lockhart trägt den Titel Teatro Amazonas und thematisiert das Publikum in kulturellen Einrichtungen. In einer langen ungeschnitten Einstellung wird jede Bewegung des Publikums bei einer Soundperformance im gleichnamigen Theater dokumentiert. Der Film sorgte bei seiner Aufführung im Berlinale Forum für Diskussionen. Ariadine Zampaulo verfolgt in Maputo Nakuzandza eine Braut, die sich nicht traut, folgt dieser tief in die Häuserschluchten von Maputo hinein und lässt ihren Film immer wieder in Gassen und verborgene Winkel abschweifen. Eine Großstadtsymphonie, in der Inszenierung und Schnappschüsse des Alltags aufeinandertreffen und der urbane Raum sich ganz den Regeln des Films fügt. Dominique Loreau durchschreitet Städte und menschliche Wohnräume an der Seite chinesischer Wollhandkrabben, die den Dreh- und Angelpunkt ihres wendigen, suggestiven Essayfilms Such A Long March bilden. Die Filme formen miteinander unter dem Titel Cinecology einen Abend, in dem Fragen zur Visualität des städtischen Lebens und zu den (Un-)Möglichkeiten filmischer Räume auftauchen werden.
Mit Shin Ultraman zeigt Shinji Higuchi, wie philosophisch und experimentierfreudig Monsterfilme sein können, indem er eine der wichtigsten Filmreihen in Bezug auf Godzilla und Co. fortführt. Ultraman nimmt darin den Kampf gegen einen ausgefeilten Widersacher auf, der von seinem Heimatplaneten auf die Erde reist, um Politiker*innen gegeneinander auszuspielen. Der aus Brasilien stammende Regisseur Marcelo Lin flirtet anders als seine Zeitgenossen Adirley Queirós, Affonso Uchôa, Lincoln Péricles and André Novais Oliveira immer wieder ausdrücklich mit der Ästhetik des Hollywood-Kinos. In Serrão portraitiert er zwischen Dokumentarfilm und surrealistischer Eskapade einen in die Jahre gekommenen Rapper mit einem künstlichen Augapfel und schließt damit einen Filmabend unter dem Titel Gentle Giants.
Alle Programme und Termine im Überblick
DO 16 Feb
20:00
MISSING IN ACTION
¿DÓNDE ESTÁ MARIE ANNE?
R: Yaela Gottlieb, AR/PE 2022, 6 Min. – Europapremiere
DE NOCHE LOS GATOS SON PARDOS
R: Valentin Merz, CH 2022, 110 Min. – Deutschlandpremiere
LUST (EIN PERFEKTES PAAR ODER DIE UNZUCHT WECHSELT IHRE HAUT)
R: Valie Export, AT/DE 1986, 12 Min.
FR 17 Feb
20:00
AESTHETICS OF CARE
PRENDAS – NGANGAS – ENQUISOS – MACHINES {EACH PART WELCOMES THE OTHER WITHOUT SAYING}
R+K: Elke Marhöfer, CU 2014, 26 Min.
THE DEMANDS OF ORDINARY DEVOTION
R: Eva Giolo, BE/IT 2022, 12 Min.
KOBAN LOUZOU
R: Brieuc Schieb, FR 2022, 60 Min. – Internationale Premiere
DAWN (MADRUGADA)
R: Leonor Noivo, PT 2021, 28 Min.
SA 18 Feb
20:00
MIDNIGHT METABOLISM
CAFÉ FLESH
R: Stephen Sayadian, US 1982, 73 Min.
MISSION TO MARS (MISIÓN A MARTE)
R: Amat Vallmajor del Pozo, ES 2022, 71 Min. – Internationale Premiere
THE FIFTH THORACIC VERTEBRA (DASEOS BEONJJAE HYUNGCHU)
R: Syeyoung Park, KR 2022, 65 Min. – Deutschlandpremiere
SO 19 Feb
20:00
GENTLE GIANTS
SHIN ULTRAMAN
R: Shinji Higuchi, JP 2022, 113 Min. – Deutschlandpremiere
SERRÃO
R: Marcelo Lin, BR 2021, 18 Min. – Europapremiere
DI 21 Feb
20:00
REACTION SHOT
SOLMATALUA
R: Rodrigo Ribeiro-Andrade, BR 2022, 15 Min. – Deutschlandpremiere
STILL FREE
R: Vadim Kostrov, RU 2023, 31 Min. – Weltpremiere
REVOLUTION+1
R: Masao Adachi, JP 2022, 80 Min. – Internationale Premiere
MI 22 Feb
20:00
CINECOLOGY
TEATRO AMAZONAS
R: Sharon Lockhart, US 1999, 40 Min.
MAPUTO NAKUZANDZA
R: Ariadine Zampaulo, BR/MZ 2022, 60 Min. – Deutschlandpremiere
SUCH A LONG MARCH (UNE SI LONGUE MARCHE)
R: Dominique Loreau, BE 2022, 62 Min. – Deutschlandpremiere
DO 23 Feb
20:00
SOFTLY SURREAL
THE FILM TO COME (LE FILM A VENIR)
R: Raúl Ruiz, FR/CH 1987, 8 Min.
MOON NIGHT
R: Manaka Nagai, DE 2022, 15 Min. – Deutschlandpremiere
SMOG IN YOUR HEART (SMOG EN TU CORAZÓN)
R: Lucía Seles, AR 2022, 112 Min. – Europapremiere